§. 45. Wie viel wir von den Begebenheiten der Seele nicht wissen.
Jn der menschlichen Seele, wovon der gröste Theil unserer historischen Erkentniß abhanget, ist noch mehr verborgenes. 1. Selbst klare Gedan- cken, dauerhaffte Gedancken, die der allzu wohl weiß, der sie hat, können andere nicht wissen, wenn solche nicht in Worte und Wercke ausbrechen. 2. Haben wir sehr viele Vorstellungen, die dun- ckel und flüchtig sind, daß wir sie selbst nicht ein- mahl genau bemercken, ohngeachtet sie in uns ent- stehen: und dennoch ist diesen dunckeln Vorstellun- gen, der Ursprung unserer Gedancken, die wir wissen, meistentheils zuzuschreiben. 3. Aendert sich der Zustand der Seele stündlich: daß man nehmlich mehr aufgeräumt, oder verdrüßlicher wird, daß man zu einer Sache bald Lust hat, bald nicht Lust hat, welches macht, daß man die Sa- chen gantz mit andern Augen ansiehet. (§. 22. C. 5.) Und diese Abwechselungen unserer Gemüthsverfas- sung bemercken wir das hunderste mahl kaum sel- ber: und wissen offt selbst nicht, wie uns zu mu- the ist? geschweige daß es andere sollten wissen kön- nen? 4. Wer will also auch die Grade bestim- men, wenn auch allenfalls offenbar wird, daß wir frölich, daß wir traurig, daß wir zornig sind, da doch auf den Grad der Qualitäten alles ankömmt, wenn daraus die Effectus sollen erklärt werden. Ja was wir einerley Grad der Freude, oder des Unmuths, nennen, wird doch noch ein grosser Unterscheid seyn, ob eben derselbe Grad ietzo in der
Folge
R 5
v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
§. 45. Wie viel wir von den Begebenheiten der Seele nicht wiſſen.
Jn der menſchlichen Seele, wovon der groͤſte Theil unſerer hiſtoriſchen Erkentniß abhanget, iſt noch mehr verborgenes. 1. Selbſt klare Gedan- cken, dauerhaffte Gedancken, die der allzu wohl weiß, der ſie hat, koͤnnen andere nicht wiſſen, wenn ſolche nicht in Worte und Wercke ausbrechen. 2. Haben wir ſehr viele Vorſtellungen, die dun- ckel und fluͤchtig ſind, daß wir ſie ſelbſt nicht ein- mahl genau bemercken, ohngeachtet ſie in uns ent- ſtehen: und dennoch iſt dieſen dunckeln Vorſtellun- gen, der Urſprung unſerer Gedancken, die wir wiſſen, meiſtentheils zuzuſchreiben. 3. Aendert ſich der Zuſtand der Seele ſtuͤndlich: daß man nehmlich mehr aufgeraͤumt, oder verdruͤßlicher wird, daß man zu einer Sache bald Luſt hat, bald nicht Luſt hat, welches macht, daß man die Sa- chen gantz mit andern Augen anſiehet. (§. 22. C. 5.) Und dieſe Abwechſelungen unſerer Gemuͤthsverfaſ- ſung bemercken wir das hunderſte mahl kaum ſel- ber: und wiſſen offt ſelbſt nicht, wie uns zu mu- the iſt? geſchweige daß es andere ſollten wiſſen koͤn- nen? 4. Wer will alſo auch die Grade beſtim- men, wenn auch allenfalls offenbar wird, daß wir froͤlich, daß wir traurig, daß wir zornig ſind, da doch auf den Grad der Qualitaͤten alles ankoͤmmt, wenn daraus die Effectus ſollen erklaͤrt werden. Ja was wir einerley Grad der Freude, oder des Unmuths, nennen, wird doch noch ein groſſer Unterſcheid ſeyn, ob eben derſelbe Grad ietzo in der
Folge
R 5
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0301"n="265"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.</hi></fw><lb/><divn="2"><head>§. 45.<lb/>
Wie viel wir von den Begebenheiten der Seele<lb/>
nicht wiſſen.</head><lb/><p>Jn der menſchlichen Seele, wovon der groͤſte<lb/>
Theil unſerer hiſtoriſchen Erkentniß abhanget, iſt<lb/>
noch mehr verborgenes. 1. Selbſt klare Gedan-<lb/>
cken, dauerhaffte Gedancken, die der allzu wohl<lb/>
weiß, der ſie hat, koͤnnen andere nicht wiſſen,<lb/>
wenn ſolche nicht in Worte und Wercke ausbrechen.<lb/>
2. Haben wir ſehr viele Vorſtellungen, die <hirendition="#fr">dun-<lb/>
ckel</hi> und <hirendition="#fr">fluͤchtig</hi>ſind, daß wir ſie ſelbſt nicht ein-<lb/>
mahl genau bemercken, ohngeachtet ſie in uns ent-<lb/>ſtehen: und dennoch iſt dieſen dunckeln Vorſtellun-<lb/>
gen, der Urſprung unſerer <hirendition="#fr">Gedancken,</hi> die wir<lb/>
wiſſen, meiſtentheils zuzuſchreiben. 3. Aendert<lb/>ſich der Zuſtand der Seele ſtuͤndlich: daß man<lb/>
nehmlich mehr aufgeraͤumt, oder verdruͤßlicher<lb/>
wird, daß man zu einer Sache bald Luſt hat, bald<lb/>
nicht Luſt hat, welches macht, daß man die Sa-<lb/>
chen gantz mit andern Augen anſiehet. (§. 22. C. 5.)<lb/>
Und dieſe Abwechſelungen unſerer Gemuͤthsverfaſ-<lb/>ſung bemercken wir das hunderſte mahl kaum ſel-<lb/>
ber: und wiſſen offt ſelbſt nicht, wie uns <hirendition="#fr">zu mu-<lb/>
the</hi> iſt? geſchweige daß es andere ſollten wiſſen koͤn-<lb/>
nen? 4. Wer will alſo auch die <hirendition="#fr">Grade</hi> beſtim-<lb/>
men, wenn auch allenfalls offenbar wird, daß wir<lb/>
froͤlich, daß wir traurig, daß wir zornig ſind, da<lb/>
doch auf den <hirendition="#fr">Grad</hi> der Qualitaͤten alles ankoͤmmt,<lb/>
wenn daraus die <hirendition="#aq">Effectus</hi>ſollen erklaͤrt werden. Ja<lb/>
was wir <hirendition="#fr">einerley Grad</hi> der Freude, oder des<lb/>
Unmuths, nennen, wird doch noch ein groſſer<lb/>
Unterſcheid ſeyn, ob eben derſelbe Grad ietzo in der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">R 5</fw><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">Folge</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[265/0301]
v. d. Zuſammenhange d. Begebenh. ꝛc.
§. 45.
Wie viel wir von den Begebenheiten der Seele
nicht wiſſen.
Jn der menſchlichen Seele, wovon der groͤſte
Theil unſerer hiſtoriſchen Erkentniß abhanget, iſt
noch mehr verborgenes. 1. Selbſt klare Gedan-
cken, dauerhaffte Gedancken, die der allzu wohl
weiß, der ſie hat, koͤnnen andere nicht wiſſen,
wenn ſolche nicht in Worte und Wercke ausbrechen.
2. Haben wir ſehr viele Vorſtellungen, die dun-
ckel und fluͤchtig ſind, daß wir ſie ſelbſt nicht ein-
mahl genau bemercken, ohngeachtet ſie in uns ent-
ſtehen: und dennoch iſt dieſen dunckeln Vorſtellun-
gen, der Urſprung unſerer Gedancken, die wir
wiſſen, meiſtentheils zuzuſchreiben. 3. Aendert
ſich der Zuſtand der Seele ſtuͤndlich: daß man
nehmlich mehr aufgeraͤumt, oder verdruͤßlicher
wird, daß man zu einer Sache bald Luſt hat, bald
nicht Luſt hat, welches macht, daß man die Sa-
chen gantz mit andern Augen anſiehet. (§. 22. C. 5.)
Und dieſe Abwechſelungen unſerer Gemuͤthsverfaſ-
ſung bemercken wir das hunderſte mahl kaum ſel-
ber: und wiſſen offt ſelbſt nicht, wie uns zu mu-
the iſt? geſchweige daß es andere ſollten wiſſen koͤn-
nen? 4. Wer will alſo auch die Grade beſtim-
men, wenn auch allenfalls offenbar wird, daß wir
froͤlich, daß wir traurig, daß wir zornig ſind, da
doch auf den Grad der Qualitaͤten alles ankoͤmmt,
wenn daraus die Effectus ſollen erklaͤrt werden. Ja
was wir einerley Grad der Freude, oder des
Unmuths, nennen, wird doch noch ein groſſer
Unterſcheid ſeyn, ob eben derſelbe Grad ietzo in der
Folge
R 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/301>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.