Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Capitel,
und der sich immer aufs neue äusernden Ursachen
der Aenderung in Erzehlen und Nachsagen, die
Geschichte gantz und gar verunstaltet, und in eine
Fabel verwandelt werden kan.

§. 29.
Warum der Ruf die Sachen sehr verdrehe.

Hier zu kommt, daß eine Geschichte allemahl
in einer gewissen Absicht erzehlet wird (§. 9. C. 5.):
Wobey in gemeinen Erzehlungen fast allemahl
ein Haupt requisitum ist, daß es etwas merckwür-
diges und sonderbares seyn muß (§. cit.).
Wenn nun jeder derer Nachsager, nach dieser Er-
zehlungsart handelt, und durch seine Einbildungs-
krafft etwas daran ändert, so muß die daraus fol-
gende Erzehlung bey jedem Nachsager immer um
etwas verändert werden, und die Erzehlung einer
Fabel näher kommen. Wie die lateinischen Scri-
benten sich dieses Kunststückes bedienet, ihre Bü-
cher und Erzehlungen angenehmer zu machen,
habe ich in einem Exempel aus dem Plinio, und
seiner Historia Naturali gezeigt in einem Pro-
grammate de Macrobiis semel in vita parienti-
bus. Opusc. Acad. Vol. II. p.
177.

§. 30.
Was bey dem Nachsagen einer Geschichte
noch mehr vorgehe.

Obgleich der Zuschauer seine Erkenntniß von
der Geschichte schon verkürtzt, und in einen Aus-
zug bringt (§. 3. C. 6.); so kan doch seine Er-
zehlung vor dem Nachsager, wegen besondrer Um-

stände

Siebentes Capitel,
und der ſich immer aufs neue aͤuſernden Urſachen
der Aenderung in Erzehlen und Nachſagen, die
Geſchichte gantz und gar verunſtaltet, und in eine
Fabel verwandelt werden kan.

§. 29.
Warum der Ruf die Sachen ſehr verdrehe.

Hier zu kommt, daß eine Geſchichte allemahl
in einer gewiſſen Abſicht erzehlet wird (§. 9. C. 5.):
Wobey in gemeinen Erzehlungen faſt allemahl
ein Haupt requiſitum iſt, daß es etwas merckwuͤr-
diges und ſonderbares ſeyn muß (§. cit.).
Wenn nun jeder derer Nachſager, nach dieſer Er-
zehlungsart handelt, und durch ſeine Einbildungs-
krafft etwas daran aͤndert, ſo muß die daraus fol-
gende Erzehlung bey jedem Nachſager immer um
etwas veraͤndert werden, und die Erzehlung einer
Fabel naͤher kommen. Wie die lateiniſchen Scri-
benten ſich dieſes Kunſtſtuͤckes bedienet, ihre Buͤ-
cher und Erzehlungen angenehmer zu machen,
habe ich in einem Exempel aus dem Plinio, und
ſeiner Hiſtoria Naturali gezeigt in einem Pro-
grammate de Macrobiis ſemel in vita parienti-
bus. Opuſc. Acad. Vol. II. p.
177.

§. 30.
Was bey dem Nachſagen einer Geſchichte
noch mehr vorgehe.

Obgleich der Zuſchauer ſeine Erkenntniß von
der Geſchichte ſchon verkuͤrtzt, und in einen Aus-
zug bringt (§. 3. C. 6.); ſo kan doch ſeine Er-
zehlung vor dem Nachſager, wegen beſondrer Um-

ſtaͤnde
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0224" n="188"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Capitel,</hi></fw><lb/>
und der &#x017F;ich immer aufs neue a&#x0364;u&#x017F;ernden Ur&#x017F;achen<lb/>
der Aenderung in Erzehlen und Nach&#x017F;agen, die<lb/>
Ge&#x017F;chichte gantz und gar verun&#x017F;taltet, und in eine<lb/>
Fabel verwandelt werden kan.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 29.<lb/>
Warum der Ruf die Sachen &#x017F;ehr verdrehe.</head><lb/>
          <p>Hier zu kommt, daß eine Ge&#x017F;chichte allemahl<lb/>
in einer gewi&#x017F;&#x017F;en Ab&#x017F;icht erzehlet wird (§. 9. C. 5.):<lb/>
Wobey in gemeinen Erzehlungen fa&#x017F;t allemahl<lb/>
ein Haupt <hi rendition="#aq">requi&#x017F;itum</hi> i&#x017F;t, daß es etwas merckwu&#x0364;r-<lb/>
diges und &#x017F;onderbares &#x017F;eyn muß (§. <hi rendition="#aq">cit.</hi>).<lb/>
Wenn nun jeder derer Nach&#x017F;ager, nach die&#x017F;er Er-<lb/>
zehlungsart handelt, und durch &#x017F;eine Einbildungs-<lb/>
krafft etwas daran a&#x0364;ndert, &#x017F;o muß die daraus fol-<lb/>
gende Erzehlung bey jedem Nach&#x017F;ager immer um<lb/>
etwas vera&#x0364;ndert werden, und die Erzehlung einer<lb/>
Fabel na&#x0364;her kommen. Wie die lateini&#x017F;chen Scri-<lb/>
benten &#x017F;ich die&#x017F;es Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ckes bedienet, ihre Bu&#x0364;-<lb/>
cher und Erzehlungen angenehmer zu machen,<lb/>
habe ich in einem Exempel aus dem <hi rendition="#aq">Plinio,</hi> und<lb/>
&#x017F;einer <hi rendition="#aq">Hi&#x017F;toria Naturali</hi> gezeigt in einem <hi rendition="#aq">Pro-<lb/>
grammate de Macrobiis &#x017F;emel in vita parienti-<lb/>
bus. Opu&#x017F;c. Acad. Vol. II. p.</hi> 177.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 30.<lb/>
Was bey dem Nach&#x017F;agen einer Ge&#x017F;chichte<lb/>
noch mehr vorgehe.</head><lb/>
          <p>Obgleich der Zu&#x017F;chauer &#x017F;eine Erkenntniß von<lb/>
der Ge&#x017F;chichte &#x017F;chon verku&#x0364;rtzt, und in einen Aus-<lb/>
zug bringt (§. 3. C. 6.); &#x017F;o kan doch &#x017F;eine Er-<lb/>
zehlung vor dem Nach&#x017F;ager, wegen be&#x017F;ondrer Um-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ta&#x0364;nde</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0224] Siebentes Capitel, und der ſich immer aufs neue aͤuſernden Urſachen der Aenderung in Erzehlen und Nachſagen, die Geſchichte gantz und gar verunſtaltet, und in eine Fabel verwandelt werden kan. §. 29. Warum der Ruf die Sachen ſehr verdrehe. Hier zu kommt, daß eine Geſchichte allemahl in einer gewiſſen Abſicht erzehlet wird (§. 9. C. 5.): Wobey in gemeinen Erzehlungen faſt allemahl ein Haupt requiſitum iſt, daß es etwas merckwuͤr- diges und ſonderbares ſeyn muß (§. cit.). Wenn nun jeder derer Nachſager, nach dieſer Er- zehlungsart handelt, und durch ſeine Einbildungs- krafft etwas daran aͤndert, ſo muß die daraus fol- gende Erzehlung bey jedem Nachſager immer um etwas veraͤndert werden, und die Erzehlung einer Fabel naͤher kommen. Wie die lateiniſchen Scri- benten ſich dieſes Kunſtſtuͤckes bedienet, ihre Buͤ- cher und Erzehlungen angenehmer zu machen, habe ich in einem Exempel aus dem Plinio, und ſeiner Hiſtoria Naturali gezeigt in einem Pro- grammate de Macrobiis ſemel in vita parienti- bus. Opuſc. Acad. Vol. II. p. 177. §. 30. Was bey dem Nachſagen einer Geſchichte noch mehr vorgehe. Obgleich der Zuſchauer ſeine Erkenntniß von der Geſchichte ſchon verkuͤrtzt, und in einen Aus- zug bringt (§. 3. C. 6.); ſo kan doch ſeine Er- zehlung vor dem Nachſager, wegen beſondrer Um- ſtaͤnde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/224
Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/224>, abgerufen am 13.11.2024.