Nunmehr sind wir so weit, dass wir dem vorhin angerufenen künftigen Bichat mit einigen Andeutungen über den historischen Gang der Entfaltung der germanischen Welt bis zum Jahre 1800 zur Hand gehen können, und zwar indem wir auf jedes der sieben Elemente, welche wir einer besseren Übersicht wegen annahmen, der Reihen- folge nach einen Blick werfen.
1. Entdeckung (von Marco Polo bis Galvani).
Die angeborene Befähigung.
Die Menge des Wissbaren ist offenbar unerschöpflich. Bei der Wissenschaft -- im Gegensatz zum Wissensstoff -- könnte man sich allenfalls eine Entwickelungsstufe vorstellen, auf welcher alle grossen Gesetze der Natur aufgefunden wären; denn hier handelt es sich um ein Verhältnis zwischen den Erscheinungen und der menschlichen Ver- nunft, also jedenfalls um etwas, was in Folge der besonderen Natur dieser Vernunft streng beschränkt und sozusagen individuell ist -- nämlich der Individualität des Menschengeschlechtes angepasst und zugehörig. Die Wissenschaft fände in diesem Falle nur mehr nach innen zu, in der immer feineren Analyse, ein unerschöpfliches Feld. Dagegen zeigt alle Erfahrung, dass das Reich der Phänomene und der Formen ein endloses, nie auszuforschendes ist. Keine noch so wissenschaftliche Geographie, Physiographie und Geologie kann uns über die Eigentüm- lichkeiten eines noch unentdeckten Landes das Geringste aussagen; ein neu entdecktes Moos, ein neu entdeckter Käfer ist ein absolut Neues, eine thatsächliche und unvergängliche Bereicherung unserer Vorstellungs- welt, unseres Wissensmaterials. Natürlich werden wir uns beeilen, Käfer und Moos unserer menschlichen Bequemlichkeit halber in irgend eine schon aufgestellte Gattung einzurangieren, und wenn kein Drängen und Zwängen dazu ausreicht, so werden wir eine neue "Gattung" zum Zwecke der Klassifikation erdichten, sie aber wenigstens, wenn irgend thunlich, einer bekannten "Ordnung" einverleiben u. s. w.; in- zwischen bleiben der betreffende Käfer und das betreffende Moos nach wie vor ein vollkommen Individuelles, und zugleich ein Unerfindbares, ein Unauszudenkendes, gleichsam eine neue, ungeahnte Verkörperung des Weltgedankens, und diese neue Verkörperung des Gedankens be- sitzen wir jetzt, während wir sie früher entbehrten. Desgleichen mit allen Phänomenen. Die Brechung des Lichtes durch das Prisma, die
Die Entstehung einer neuen Welt.
Nunmehr sind wir so weit, dass wir dem vorhin angerufenen künftigen Bichat mit einigen Andeutungen über den historischen Gang der Entfaltung der germanischen Welt bis zum Jahre 1800 zur Hand gehen können, und zwar indem wir auf jedes der sieben Elemente, welche wir einer besseren Übersicht wegen annahmen, der Reihen- folge nach einen Blick werfen.
1. Entdeckung (von Marco Polo bis Galvani).
Die angeborene Befähigung.
Die Menge des Wissbaren ist offenbar unerschöpflich. Bei der Wissenschaft — im Gegensatz zum Wissensstoff — könnte man sich allenfalls eine Entwickelungsstufe vorstellen, auf welcher alle grossen Gesetze der Natur aufgefunden wären; denn hier handelt es sich um ein Verhältnis zwischen den Erscheinungen und der menschlichen Ver- nunft, also jedenfalls um etwas, was in Folge der besonderen Natur dieser Vernunft streng beschränkt und sozusagen individuell ist — nämlich der Individualität des Menschengeschlechtes angepasst und zugehörig. Die Wissenschaft fände in diesem Falle nur mehr nach innen zu, in der immer feineren Analyse, ein unerschöpfliches Feld. Dagegen zeigt alle Erfahrung, dass das Reich der Phänomene und der Formen ein endloses, nie auszuforschendes ist. Keine noch so wissenschaftliche Geographie, Physiographie und Geologie kann uns über die Eigentüm- lichkeiten eines noch unentdeckten Landes das Geringste aussagen; ein neu entdecktes Moos, ein neu entdeckter Käfer ist ein absolut Neues, eine thatsächliche und unvergängliche Bereicherung unserer Vorstellungs- welt, unseres Wissensmaterials. Natürlich werden wir uns beeilen, Käfer und Moos unserer menschlichen Bequemlichkeit halber in irgend eine schon aufgestellte Gattung einzurangieren, und wenn kein Drängen und Zwängen dazu ausreicht, so werden wir eine neue »Gattung« zum Zwecke der Klassifikation erdichten, sie aber wenigstens, wenn irgend thunlich, einer bekannten »Ordnung« einverleiben u. s. w.; in- zwischen bleiben der betreffende Käfer und das betreffende Moos nach wie vor ein vollkommen Individuelles, und zugleich ein Unerfindbares, ein Unauszudenkendes, gleichsam eine neue, ungeahnte Verkörperung des Weltgedankens, und diese neue Verkörperung des Gedankens be- sitzen wir jetzt, während wir sie früher entbehrten. Desgleichen mit allen Phänomenen. Die Brechung des Lichtes durch das Prisma, die
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Die Entstehung einer neuen Welt.
Nunmehr sind wir so weit, dass wir dem vorhin angerufenen
künftigen Bichat mit einigen Andeutungen über den historischen Gang
der Entfaltung der germanischen Welt bis zum Jahre 1800 zur Hand
gehen können, und zwar indem wir auf jedes der sieben Elemente,
welche wir einer besseren Übersicht wegen annahmen, der Reihen-
folge nach einen Blick werfen.
1. Entdeckung (von Marco Polo bis Galvani).
Die Menge des Wissbaren ist offenbar unerschöpflich. Bei der
Wissenschaft — im Gegensatz zum Wissensstoff — könnte man sich
allenfalls eine Entwickelungsstufe vorstellen, auf welcher alle grossen
Gesetze der Natur aufgefunden wären; denn hier handelt es sich um
ein Verhältnis zwischen den Erscheinungen und der menschlichen Ver-
nunft, also jedenfalls um etwas, was in Folge der besonderen Natur dieser
Vernunft streng beschränkt und sozusagen individuell ist — nämlich
der Individualität des Menschengeschlechtes angepasst und zugehörig.
Die Wissenschaft fände in diesem Falle nur mehr nach innen zu, in
der immer feineren Analyse, ein unerschöpfliches Feld. Dagegen zeigt
alle Erfahrung, dass das Reich der Phänomene und der Formen ein
endloses, nie auszuforschendes ist. Keine noch so wissenschaftliche
Geographie, Physiographie und Geologie kann uns über die Eigentüm-
lichkeiten eines noch unentdeckten Landes das Geringste aussagen;
ein neu entdecktes Moos, ein neu entdeckter Käfer ist ein absolut Neues,
eine thatsächliche und unvergängliche Bereicherung unserer Vorstellungs-
welt, unseres Wissensmaterials. Natürlich werden wir uns beeilen, Käfer
und Moos unserer menschlichen Bequemlichkeit halber in irgend eine
schon aufgestellte Gattung einzurangieren, und wenn kein Drängen
und Zwängen dazu ausreicht, so werden wir eine neue »Gattung«
zum Zwecke der Klassifikation erdichten, sie aber wenigstens, wenn
irgend thunlich, einer bekannten »Ordnung« einverleiben u. s. w.; in-
zwischen bleiben der betreffende Käfer und das betreffende Moos nach
wie vor ein vollkommen Individuelles, und zugleich ein Unerfindbares,
ein Unauszudenkendes, gleichsam eine neue, ungeahnte Verkörperung
des Weltgedankens, und diese neue Verkörperung des Gedankens be-
sitzen wir jetzt, während wir sie früher entbehrten. Desgleichen mit
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 752. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/231>, abgerufen am 21.11.2024.
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