Dich im Unendlichen zu finden, Musst unterscheiden und dann verbinden. Goethe.
Unmöglich ist es, Übersicht über eine grosse Anzahl von That-Die Elemente des socialen Lebens. sachen zu gewinnen, wenn man diese nicht gliedert, und gliedern heisst: erst unterscheiden und dann verbinden. Doch ist uns mit einem beliebigen künstlichen System nicht gedient, und zu den künst- lichen gehören alle rein logischen Versuche: das sieht man bei den Pflanzensystemen, von Theophrast bis Linnäus, und ebenso z. B. bei den Versuchen, Künstler nach Schulen zu klassifizieren. Etwas Will- kür wirkt freilich bei jeder systematischen Gliederung mit; denn das System entspringt dem sinnenden Gehirn und dient den besonderen Bedürfnissen des menschlichen Verstandes. Es kommt also darauf an, dass dieser ordnende Verstand nicht bloss einzelne, sondern eine mög- lichst grosse Menge Phänomene überschaue, und dass sein Auge mög- lichst scharf und treu sehe: auf diese Weise wird seine Thätigkeit ein Maximum von Beobachtung, gepaart mit einem Minimum von eigener Zuthat, ergeben. Man bewundert den Scharfsinn und das Wissen von Männern wie Ray, Jussieu, Cuvier, Endlicher: man sollte vor Allem ihren Scharfblick bewundern, denn was sie auszeichnet, ist die Unterordnung des Denkens unter die Anschauung; aus der intuitiven (d. h. anschaulichen) Erfassung des Ganzen ergiebt sich ihnen die richtige Gliederung der Teile. Goethe's Mahnung, erst zu unter-
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 47
B Geschichtlicher Überblick
Dich im Unendlichen zu finden, Musst unterscheiden und dann verbinden. Goethe.
Unmöglich ist es, Übersicht über eine grosse Anzahl von That-Die Elemente des socialen Lebens. sachen zu gewinnen, wenn man diese nicht gliedert, und gliedern heisst: erst unterscheiden und dann verbinden. Doch ist uns mit einem beliebigen künstlichen System nicht gedient, und zu den künst- lichen gehören alle rein logischen Versuche: das sieht man bei den Pflanzensystemen, von Theophrast bis Linnäus, und ebenso z. B. bei den Versuchen, Künstler nach Schulen zu klassifizieren. Etwas Will- kür wirkt freilich bei jeder systematischen Gliederung mit; denn das System entspringt dem sinnenden Gehirn und dient den besonderen Bedürfnissen des menschlichen Verstandes. Es kommt also darauf an, dass dieser ordnende Verstand nicht bloss einzelne, sondern eine mög- lichst grosse Menge Phänomene überschaue, und dass sein Auge mög- lichst scharf und treu sehe: auf diese Weise wird seine Thätigkeit ein Maximum von Beobachtung, gepaart mit einem Minimum von eigener Zuthat, ergeben. Man bewundert den Scharfsinn und das Wissen von Männern wie Ray, Jussieu, Cuvier, Endlicher: man sollte vor Allem ihren Scharfblick bewundern, denn was sie auszeichnet, ist die Unterordnung des Denkens unter die Anschauung; aus der intuitiven (d. h. anschaulichen) Erfassung des Ganzen ergiebt sich ihnen die richtige Gliederung der Teile. Goethe’s Mahnung, erst zu unter-
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 47
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B
Geschichtlicher Überblick
Dich im Unendlichen zu finden,
Musst unterscheiden und dann verbinden.
Goethe.
Unmöglich ist es, Übersicht über eine grosse Anzahl von That-
sachen zu gewinnen, wenn man diese nicht gliedert, und gliedern
heisst: erst unterscheiden und dann verbinden. Doch ist uns mit
einem beliebigen künstlichen System nicht gedient, und zu den künst-
lichen gehören alle rein logischen Versuche: das sieht man bei den
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den Versuchen, Künstler nach Schulen zu klassifizieren. Etwas Will-
kür wirkt freilich bei jeder systematischen Gliederung mit; denn das
System entspringt dem sinnenden Gehirn und dient den besonderen
Bedürfnissen des menschlichen Verstandes. Es kommt also darauf an,
dass dieser ordnende Verstand nicht bloss einzelne, sondern eine mög-
lichst grosse Menge Phänomene überschaue, und dass sein Auge mög-
lichst scharf und treu sehe: auf diese Weise wird seine Thätigkeit
ein Maximum von Beobachtung, gepaart mit einem Minimum von
eigener Zuthat, ergeben. Man bewundert den Scharfsinn und das
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vor Allem ihren Scharfblick bewundern, denn was sie auszeichnet,
ist die Unterordnung des Denkens unter die Anschauung; aus der
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Lebens.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. [729]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/208>, abgerufen am 03.12.2024.
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