Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

immer wesentlich von Verschiedenheiten der That hergenom¬
men zu werden pflegen. Im Allgemeinen könnte man da¬
her wohl sagen: der Charakter des Mannes entwickle sich
mehr durch Thun, der des Weibes mehr durch Leiden, und
wirklich tritt die eigenthümliche Kraft und Schönheit des
weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer besondern Macht
da hervor, wo die Tiefe des Gemüthlebens durch vielfältige
Leiden geprüft worden ist.

Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt lassen,
daß es beiden Geschlechtern wegen dieser Verschiedenheiten
nicht gleich leicht wird die Eigenthümlichkeit ihres Charakters
bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe festzuhalten.
Es ist nämlich früher gezeigt worden, wie wesentlich das
Wachsthum der Seele an die Zunahme der Erkenntniß ge¬
knüpft sei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der
weiblichen Individualität diese Richtung weniger natürlich
sei als der männlichen, so ergibt sich daraus, in Verbindung
mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten
Abwendung derselben von Gelegenheit zur Förderung der
Erkenntniß, warum so selten Individualitäten und Charaktere
bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine schöne
ungehinderte Fortschreitung im psychischen Wachsthum be¬
urkunden, und warum so viel häufiger in dieser Hinsicht
die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend
genannt werden kann. -- Doch es werden sich noch manche
Züge zur Charakteristik der Geschlechter und Personen geben
lassen, wenn wir nun zur Geschichte der besondern Strah¬
lungen psychischen Lebens übergehen.

g. Von den verschiedenen Strahlungen des Seelenlebens.

Der Wissenschaft von der Seele ist kaum durch irgend
etwas mehr Nachtheil erwachsen, als durch das Trennen
der Seele in eine Menge von Kräften, Trieben und Eigen¬
schaften; denn nicht nur daß Das, was durchaus und

immer weſentlich von Verſchiedenheiten der That hergenom¬
men zu werden pflegen. Im Allgemeinen könnte man da¬
her wohl ſagen: der Charakter des Mannes entwickle ſich
mehr durch Thun, der des Weibes mehr durch Leiden, und
wirklich tritt die eigenthümliche Kraft und Schönheit des
weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer beſondern Macht
da hervor, wo die Tiefe des Gemüthlebens durch vielfältige
Leiden geprüft worden iſt.

Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt laſſen,
daß es beiden Geſchlechtern wegen dieſer Verſchiedenheiten
nicht gleich leicht wird die Eigenthümlichkeit ihres Charakters
bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe feſtzuhalten.
Es iſt nämlich früher gezeigt worden, wie weſentlich das
Wachsthum der Seele an die Zunahme der Erkenntniß ge¬
knüpft ſei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der
weiblichen Individualität dieſe Richtung weniger natürlich
ſei als der männlichen, ſo ergibt ſich daraus, in Verbindung
mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten
Abwendung derſelben von Gelegenheit zur Förderung der
Erkenntniß, warum ſo ſelten Individualitäten und Charaktere
bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine ſchöne
ungehinderte Fortſchreitung im pſychiſchen Wachsthum be¬
urkunden, und warum ſo viel häufiger in dieſer Hinſicht
die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend
genannt werden kann. — Doch es werden ſich noch manche
Züge zur Charakteriſtik der Geſchlechter und Perſonen geben
laſſen, wenn wir nun zur Geſchichte der beſondern Strah¬
lungen pſychiſchen Lebens übergehen.

g. Von den verſchiedenen Strahlungen des Seelenlebens.

Der Wiſſenſchaft von der Seele iſt kaum durch irgend
etwas mehr Nachtheil erwachſen, als durch das Trennen
der Seele in eine Menge von Kräften, Trieben und Eigen¬
ſchaften; denn nicht nur daß Das, was durchaus und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0277" n="261"/>
immer we&#x017F;entlich von Ver&#x017F;chiedenheiten der That hergenom¬<lb/>
men zu werden pflegen. Im Allgemeinen könnte man da¬<lb/>
her wohl &#x017F;agen: der Charakter des Mannes entwickle &#x017F;ich<lb/>
mehr durch Thun, der des Weibes mehr durch Leiden, und<lb/>
wirklich tritt die eigenthümliche Kraft und Schönheit des<lb/>
weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer be&#x017F;ondern Macht<lb/><hi rendition="#g">da</hi> hervor, wo die Tiefe des Gemüthlebens durch vielfältige<lb/>
Leiden geprüft worden i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
daß es beiden Ge&#x017F;chlechtern wegen die&#x017F;er Ver&#x017F;chiedenheiten<lb/>
nicht gleich leicht wird die Eigenthümlichkeit ihres Charakters<lb/>
bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe fe&#x017F;tzuhalten.<lb/>
Es i&#x017F;t nämlich früher gezeigt worden, wie we&#x017F;entlich das<lb/>
Wachsthum der Seele an die Zunahme der Erkenntniß ge¬<lb/>
knüpft &#x017F;ei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der<lb/>
weiblichen Individualität die&#x017F;e Richtung weniger natürlich<lb/>
&#x017F;ei als der männlichen, &#x017F;o ergibt &#x017F;ich daraus, in Verbindung<lb/>
mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten<lb/>
Abwendung der&#x017F;elben von Gelegenheit zur Förderung der<lb/>
Erkenntniß, warum &#x017F;o &#x017F;elten Individualitäten und Charaktere<lb/>
bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine &#x017F;chöne<lb/>
ungehinderte Fort&#x017F;chreitung im p&#x017F;ychi&#x017F;chen Wachsthum be¬<lb/>
urkunden, und warum &#x017F;o viel häufiger in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht<lb/>
die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend<lb/>
genannt werden kann. &#x2014; Doch es werden &#x017F;ich noch manche<lb/>
Züge zur Charakteri&#x017F;tik der Ge&#x017F;chlechter und Per&#x017F;onen geben<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, wenn wir nun zur Ge&#x017F;chichte der be&#x017F;ondern Strah¬<lb/>
lungen p&#x017F;ychi&#x017F;chen Lebens übergehen.</p><lb/>
        </div>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">g.</hi> Von den ver&#x017F;chiedenen Strahlungen des Seelenlebens.<lb/></head>
          <p>Der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft von der Seele i&#x017F;t kaum durch irgend<lb/>
etwas mehr Nachtheil erwach&#x017F;en, als durch das Trennen<lb/>
der Seele in eine Menge von Kräften, Trieben und Eigen¬<lb/>
&#x017F;chaften; denn nicht nur daß <hi rendition="#g">Das</hi>, was durchaus und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0277] immer weſentlich von Verſchiedenheiten der That hergenom¬ men zu werden pflegen. Im Allgemeinen könnte man da¬ her wohl ſagen: der Charakter des Mannes entwickle ſich mehr durch Thun, der des Weibes mehr durch Leiden, und wirklich tritt die eigenthümliche Kraft und Schönheit des weiblichen Charakters gewöhnlich mit einer beſondern Macht da hervor, wo die Tiefe des Gemüthlebens durch vielfältige Leiden geprüft worden iſt. Endlich kann man aber auch nicht unbemerkt laſſen, daß es beiden Geſchlechtern wegen dieſer Verſchiedenheiten nicht gleich leicht wird die Eigenthümlichkeit ihres Charakters bis an das Ende des Lebens in ihrer Höhe feſtzuhalten. Es iſt nämlich früher gezeigt worden, wie weſentlich das Wachsthum der Seele an die Zunahme der Erkenntniß ge¬ knüpft ſei, und wenn wir nun wahrnehmen, wie eben der weiblichen Individualität dieſe Richtung weniger natürlich ſei als der männlichen, ſo ergibt ſich daraus, in Verbindung mit der in der bisherigen Stellung der Frauen begründeten Abwendung derſelben von Gelegenheit zur Förderung der Erkenntniß, warum ſo ſelten Individualitäten und Charaktere bei hochbejahrten Frauen gefunden werden, welche eine ſchöne ungehinderte Fortſchreitung im pſychiſchen Wachsthum be¬ urkunden, und warum ſo viel häufiger in dieſer Hinſicht die Individualität des hochbejahrten Mannes befriedigend genannt werden kann. — Doch es werden ſich noch manche Züge zur Charakteriſtik der Geſchlechter und Perſonen geben laſſen, wenn wir nun zur Geſchichte der beſondern Strah¬ lungen pſychiſchen Lebens übergehen. g. Von den verſchiedenen Strahlungen des Seelenlebens. Der Wiſſenſchaft von der Seele iſt kaum durch irgend etwas mehr Nachtheil erwachſen, als durch das Trennen der Seele in eine Menge von Kräften, Trieben und Eigen¬ ſchaften; denn nicht nur daß Das, was durchaus und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/277
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/277>, abgerufen am 22.12.2024.