Eben so wenig nämlich als in der Natur etwas wahr- haft vernichtet wird, so wenig ist auch ein wahrhaftes neu entstehen möglich, da der Natur das Prädicat der Unendlichkeit zukömmt, und folglich gar keine Substanz gedacht werden kann, welche nicht von jeher in ihr vorhan- den gewesen sey. Eben so aber wie die Natur unendlich und ewig ist, ist sie auch in stätiger Bildung begriffen, und der Zeit wie dem Raume nach unendlich mannigfaltig, woraus denn folgt, daß eben so wie die Substanz ewig dieselbe seyn müsse, die Erscheinung doch stets als neu sich of- fenbaren werde.
§. 640.
Hält man diese Gedanken fest, so wird bald das Un- begreifliche der neuen Entstehung organischer Wesen sich min- dern. -- Wir finden es weniger unerklärlich wenn wir se- hen, wie der Baum Blätter und Zweige hervor treibt, aber es scheint uns wunderbar, wenn wir sehen, daß aus einem unscheinbaren Samenkorn ein neuer Baum erwachsen kann; und doch ist das Samenkorn nichts mehr als eine möglichst zusammen gezogene Gestalt der Knospe selbst *), und wie diese nur ein (wenn auch abgelöster) Theil des mütterlichen Or- ganismus, welcher seine weitere Entfaltung beginnt, so daß alle Fortpflanzung eigentlich blos als das Fortwachsen eines Urstammes durch unendliche Generationen betrachtet werden muß.
§. 641.
Also aber auch das Fortflanzen oder die Zeugung der Thiere und Menschen; es ist hier keine neue Ent- stehung, es ist blos das Fortwachsen der Thierheit,
*) S. mein Lehrb. der Zoot. S. 611. und Kieser's Grundzüge der Anatomie der Pflanzen S. 192.
§. 639.
Eben ſo wenig naͤmlich als in der Natur etwas wahr- haft vernichtet wird, ſo wenig iſt auch ein wahrhaftes neu entſtehen moͤglich, da der Natur das Praͤdicat der Unendlichkeit zukoͤmmt, und folglich gar keine Subſtanz gedacht werden kann, welche nicht von jeher in ihr vorhan- den geweſen ſey. Eben ſo aber wie die Natur unendlich und ewig iſt, iſt ſie auch in ſtaͤtiger Bildung begriffen, und der Zeit wie dem Raume nach unendlich mannigfaltig, woraus denn folgt, daß eben ſo wie die Subſtanz ewig dieſelbe ſeyn muͤſſe, die Erſcheinung doch ſtets als neu ſich of- fenbaren werde.
§. 640.
Haͤlt man dieſe Gedanken feſt, ſo wird bald das Un- begreifliche der neuen Entſtehung organiſcher Weſen ſich min- dern. — Wir finden es weniger unerklaͤrlich wenn wir ſe- hen, wie der Baum Blaͤtter und Zweige hervor treibt, aber es ſcheint uns wunderbar, wenn wir ſehen, daß aus einem unſcheinbaren Samenkorn ein neuer Baum erwachſen kann; und doch iſt das Samenkorn nichts mehr als eine moͤglichſt zuſammen gezogene Geſtalt der Knoſpe ſelbſt *), und wie dieſe nur ein (wenn auch abgeloͤſter) Theil des muͤtterlichen Or- ganismus, welcher ſeine weitere Entfaltung beginnt, ſo daß alle Fortpflanzung eigentlich blos als das Fortwachſen eines Urſtammes durch unendliche Generationen betrachtet werden muß.
§. 641.
Alſo aber auch das Fortflanzen oder die Zeugung der Thiere und Menſchen; es iſt hier keine neue Ent- ſtehung, es iſt blos das Fortwachſen der Thierheit,
*) S. mein Lehrb. der Zoot. S. 611. und Kieſer’s Grundzuͤge der Anatomie der Pflanzen S. 192.
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§. 639.
Eben ſo wenig naͤmlich als in der Natur etwas wahr-
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neu entſtehen moͤglich, da der Natur das Praͤdicat
der Unendlichkeit zukoͤmmt, und folglich gar keine Subſtanz
gedacht werden kann, welche nicht von jeher in ihr vorhan-
den geweſen ſey. Eben ſo aber wie die Natur unendlich
und ewig iſt, iſt ſie auch in ſtaͤtiger Bildung begriffen, und der
Zeit wie dem Raume nach unendlich mannigfaltig, woraus
denn folgt, daß eben ſo wie die Subſtanz ewig dieſelbe
ſeyn muͤſſe, die Erſcheinung doch ſtets als neu ſich of-
fenbaren werde.
§. 640.
Haͤlt man dieſe Gedanken feſt, ſo wird bald das Un-
begreifliche der neuen Entſtehung organiſcher Weſen ſich min-
dern. — Wir finden es weniger unerklaͤrlich wenn wir ſe-
hen, wie der Baum Blaͤtter und Zweige hervor treibt, aber
es ſcheint uns wunderbar, wenn wir ſehen, daß aus einem
unſcheinbaren Samenkorn ein neuer Baum erwachſen kann;
und doch iſt das Samenkorn nichts mehr als eine moͤglichſt
zuſammen gezogene Geſtalt der Knoſpe ſelbſt *), und wie dieſe
nur ein (wenn auch abgeloͤſter) Theil des muͤtterlichen Or-
ganismus, welcher ſeine weitere Entfaltung beginnt, ſo
daß alle Fortpflanzung eigentlich blos als das Fortwachſen
eines Urſtammes durch unendliche Generationen betrachtet
werden muß.
§. 641.
Alſo aber auch das Fortflanzen oder die Zeugung
der Thiere und Menſchen; es iſt hier keine neue Ent-
ſtehung, es iſt blos das Fortwachſen der Thierheit,
*) S. mein Lehrb. der Zoot. S. 611. und Kieſer’s Grundzuͤge
der Anatomie der Pflanzen S. 192.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 2. Leipzig, 1820, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie02_1820/28>, abgerufen am 23.11.2024.
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