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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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angewendet worden ist. -- Lassen sich jedoch über irgend eine
Methode im Allgemeinen rücksichtlich ihres Gebrauchs wenig
Vorschriften geben, so ist es diese. Alles beruht nämlich
hierbey fast auf der Individualität des Arztes, welcher sie
anwendet. Nur der mit Kraft des Geistes, mit energischem.
Willen und reiner Theilnahme an fremden Leiden Ausge-
rüstete wird auf diese Weise zum Wohle seiner Kranken wir-
ken können, für ihn aber bedarf es auch keiner Regeln,
denn es sagt ihm die Erwägung vorliegender Umstände bald,
was in diesem Falle zu thun sey. -- Man möchte daher
wohl, wie J. Paul den Dichtern, hier den Aerzten zurufen:
"Vor allen Dingen habt Genie!" und wir finden daher
auch glückliche Anwendung dieser Methode immer nur bey
wenigen aber ausgezeichneten Aerzten in der Geschichte der
Heilkunst bemerkt *). -- Erinnert muß jedoch werden, daß
wir unter solcher psychischer Behandlung keineswegs blos das
gewaltsame Erschüttern der Kranken durch einzelne Macht-
sprüche im Sinne haben, sondern vorzüglich glauben, daß
die ruhige aber feste und stätige Einwirkung einer gesunden
geistigen Individualität auf eine verstimmte, kleinmüthige,
geschwächte nicht anders als höchst wohlthätig für das in-
nerste, und in wiefern dieses die Wurzel des äußern Lebens
ist, auch für das äußere Leben solcher Kranken wirken müße.
Wobey wir an des trefflichen Lessing Ausspruch gedenken,
welcher sagt, daß der Umgang mit einem kraftvollen weisen
und guten Menschen die eigentliche Seelenarzney sey.

§. 275.

Nachdem nun also die verschiedenen Methoden, welche
die Kunst zur Behandlung jener Entwicklungskrankheiten dar-
bietet, ihrer Natur nach im Einzelnen erwogen worden sind,
kann sich aus der Vergleichung mit dem, was oben über die
Natur der Krankheit selbst erinnert worden ist, leicht die
Wahl der für besondere Fälle schicklichen Heilverfahren erge-

*) Mehrere interessante Bemerkungen hierüber finden sich in Hein-
roth
de voluntate medici, medicamento insaniae. Lips.
1818.

angewendet worden iſt. — Laſſen ſich jedoch uͤber irgend eine
Methode im Allgemeinen ruͤckſichtlich ihres Gebrauchs wenig
Vorſchriften geben, ſo iſt es dieſe. Alles beruht naͤmlich
hierbey faſt auf der Individualitaͤt des Arztes, welcher ſie
anwendet. Nur der mit Kraft des Geiſtes, mit energiſchem.
Willen und reiner Theilnahme an fremden Leiden Ausge-
ruͤſtete wird auf dieſe Weiſe zum Wohle ſeiner Kranken wir-
ken koͤnnen, fuͤr ihn aber bedarf es auch keiner Regeln,
denn es ſagt ihm die Erwaͤgung vorliegender Umſtaͤnde bald,
was in dieſem Falle zu thun ſey. — Man moͤchte daher
wohl, wie J. Paul den Dichtern, hier den Aerzten zurufen:
„Vor allen Dingen habt Genie!“ und wir finden daher
auch gluͤckliche Anwendung dieſer Methode immer nur bey
wenigen aber ausgezeichneten Aerzten in der Geſchichte der
Heilkunſt bemerkt *). — Erinnert muß jedoch werden, daß
wir unter ſolcher pſychiſcher Behandlung keineswegs blos das
gewaltſame Erſchuͤttern der Kranken durch einzelne Macht-
ſpruͤche im Sinne haben, ſondern vorzuͤglich glauben, daß
die ruhige aber feſte und ſtaͤtige Einwirkung einer geſunden
geiſtigen Individualitaͤt auf eine verſtimmte, kleinmuͤthige,
geſchwaͤchte nicht anders als hoͤchſt wohlthaͤtig fuͤr das in-
nerſte, und in wiefern dieſes die Wurzel des aͤußern Lebens
iſt, auch fuͤr das aͤußere Leben ſolcher Kranken wirken muͤße.
Wobey wir an des trefflichen Leſſing Ausſpruch gedenken,
welcher ſagt, daß der Umgang mit einem kraftvollen weiſen
und guten Menſchen die eigentliche Seelenarzney ſey.

§. 275.

Nachdem nun alſo die verſchiedenen Methoden, welche
die Kunſt zur Behandlung jener Entwicklungskrankheiten dar-
bietet, ihrer Natur nach im Einzelnen erwogen worden ſind,
kann ſich aus der Vergleichung mit dem, was oben uͤber die
Natur der Krankheit ſelbſt erinnert worden iſt, leicht die
Wahl der fuͤr beſondere Faͤlle ſchicklichen Heilverfahren erge-

*) Mehrere intereſſante Bemerkungen hieruͤber finden ſich in Hein-
roth
de voluntate medici, medicamento insaniae. Lips.
1818.
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[215/0235] angewendet worden iſt. — Laſſen ſich jedoch uͤber irgend eine Methode im Allgemeinen ruͤckſichtlich ihres Gebrauchs wenig Vorſchriften geben, ſo iſt es dieſe. Alles beruht naͤmlich hierbey faſt auf der Individualitaͤt des Arztes, welcher ſie anwendet. Nur der mit Kraft des Geiſtes, mit energiſchem. Willen und reiner Theilnahme an fremden Leiden Ausge- ruͤſtete wird auf dieſe Weiſe zum Wohle ſeiner Kranken wir- ken koͤnnen, fuͤr ihn aber bedarf es auch keiner Regeln, denn es ſagt ihm die Erwaͤgung vorliegender Umſtaͤnde bald, was in dieſem Falle zu thun ſey. — Man moͤchte daher wohl, wie J. Paul den Dichtern, hier den Aerzten zurufen: „Vor allen Dingen habt Genie!“ und wir finden daher auch gluͤckliche Anwendung dieſer Methode immer nur bey wenigen aber ausgezeichneten Aerzten in der Geſchichte der Heilkunſt bemerkt *). — Erinnert muß jedoch werden, daß wir unter ſolcher pſychiſcher Behandlung keineswegs blos das gewaltſame Erſchuͤttern der Kranken durch einzelne Macht- ſpruͤche im Sinne haben, ſondern vorzuͤglich glauben, daß die ruhige aber feſte und ſtaͤtige Einwirkung einer geſunden geiſtigen Individualitaͤt auf eine verſtimmte, kleinmuͤthige, geſchwaͤchte nicht anders als hoͤchſt wohlthaͤtig fuͤr das in- nerſte, und in wiefern dieſes die Wurzel des aͤußern Lebens iſt, auch fuͤr das aͤußere Leben ſolcher Kranken wirken muͤße. Wobey wir an des trefflichen Leſſing Ausſpruch gedenken, welcher ſagt, daß der Umgang mit einem kraftvollen weiſen und guten Menſchen die eigentliche Seelenarzney ſey. §. 275. Nachdem nun alſo die verſchiedenen Methoden, welche die Kunſt zur Behandlung jener Entwicklungskrankheiten dar- bietet, ihrer Natur nach im Einzelnen erwogen worden ſind, kann ſich aus der Vergleichung mit dem, was oben uͤber die Natur der Krankheit ſelbſt erinnert worden iſt, leicht die Wahl der fuͤr beſondere Faͤlle ſchicklichen Heilverfahren erge- *) Mehrere intereſſante Bemerkungen hieruͤber finden ſich in Hein- roth de voluntate medici, medicamento insaniae. Lips. 1818.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/235>, abgerufen am 21.11.2024.