ten. Indeß ist dieß nicht minder thöricht, als bey Aufneh- mung so seltener Erfahrungen nicht mit der möglichsten Um- sicht und Schärfe zu Werke zu gehen, weßhalb wir H. Osiander*) sehr beypflichten, wenn er gegen die erstern den Montaigne anführt, welcher die Art über Aehnliches im Voraus abzuurtheilen bitter tadelt, und gedenken hierbey auch Leibnitzens, welcher bey Gelegenheit des Atheismus be- merkt, daß Leichtgläubigkeit und Ungläubigkeit sich oft son- derbar vermischen, ja daß zuweilen nur der eigene Vor- theil diktirt, was geglaubt und was nicht geglaubt werden solle **); -- eine Meynung, welche vielleicht ganz besonders an solche Aerzte erinnern könnte, bey denen nichts Glauben findet, was der bequemen Praxis des Receptschreibeus hin- derlich werden möchte.
§. 245.
Fragt man aber zuvörderst, ob Erscheinungen dieser Art wirklich mit der Natur des menschlichen Körpers, wie wir sie sonst kennen, in vollkommnem Widerspruch stehen oder nicht, so scheint uns soviel sicher, daß allerdings eigentliches Sehen, eigentliches Hören u. s. w. außer mittelst der für diesen Sinn bestimmten Werkzeuge nicht Statt finden könne; allein dieses anzunehmen finden wir auch in den zu erwähnenden Beobachtungen keinen Grund, indem man ins- besondre festhalten muß, daß die Natur ein Ganzes, in un- endlichen Kräften sich wechselseitig Durchdringendes ist, daß alle Dinge durch einander existiren, daß daher in einem des Gefühls fähigen Körper die mannigfaltigen äußern Ver- änderungen auch als Umstimmungen dieses Gefühls sich noth- wendig abspiegeln müssen, wobey es jedoch geschehen kann, daß nur ein Theil dieser Umstimmungen zum Bewußtseyn kommt, ja daß sie schon ohne Bewußtseyn die Thätigkeit des Körpers umändern (wohin die Triebe und Instinkte niederer Thiere (§. 231.) gehören). Nun ist aber überhaupt das,
*) A. a. O. 2r Thl. S. 304.
**) S. Geist des H. v. Leibnitz u. s. w. Aus d. Franz. übersetzt. Wittenberg 1775. 1r Thl. S. 70.
ten. Indeß iſt dieß nicht minder thoͤricht, als bey Aufneh- mung ſo ſeltener Erfahrungen nicht mit der moͤglichſten Um- ſicht und Schaͤrfe zu Werke zu gehen, weßhalb wir H. Oſiander*) ſehr beypflichten, wenn er gegen die erſtern den Montaigne anfuͤhrt, welcher die Art uͤber Aehnliches im Voraus abzuurtheilen bitter tadelt, und gedenken hierbey auch Leibnitzens, welcher bey Gelegenheit des Atheismus be- merkt, daß Leichtglaͤubigkeit und Unglaͤubigkeit ſich oft ſon- derbar vermiſchen, ja daß zuweilen nur der eigene Vor- theil diktirt, was geglaubt und was nicht geglaubt werden ſolle **); — eine Meynung, welche vielleicht ganz beſonders an ſolche Aerzte erinnern koͤnnte, bey denen nichts Glauben findet, was der bequemen Praxis des Receptſchreibeus hin- derlich werden moͤchte.
§. 245.
Fragt man aber zuvoͤrderſt, ob Erſcheinungen dieſer Art wirklich mit der Natur des menſchlichen Koͤrpers, wie wir ſie ſonſt kennen, in vollkommnem Widerſpruch ſtehen oder nicht, ſo ſcheint uns ſoviel ſicher, daß allerdings eigentliches Sehen, eigentliches Hoͤren u. ſ. w. außer mittelſt der fuͤr dieſen Sinn beſtimmten Werkzeuge nicht Statt finden koͤnne; allein dieſes anzunehmen finden wir auch in den zu erwaͤhnenden Beobachtungen keinen Grund, indem man ins- beſondre feſthalten muß, daß die Natur ein Ganzes, in un- endlichen Kraͤften ſich wechſelſeitig Durchdringendes iſt, daß alle Dinge durch einander exiſtiren, daß daher in einem des Gefuͤhls faͤhigen Koͤrper die mannigfaltigen aͤußern Ver- aͤnderungen auch als Umſtimmungen dieſes Gefuͤhls ſich noth- wendig abſpiegeln muͤſſen, wobey es jedoch geſchehen kann, daß nur ein Theil dieſer Umſtimmungen zum Bewußtſeyn kommt, ja daß ſie ſchon ohne Bewußtſeyn die Thaͤtigkeit des Koͤrpers umaͤndern (wohin die Triebe und Inſtinkte niederer Thiere (§. 231.) gehoͤren). Nun iſt aber uͤberhaupt das,
*) A. a. O. 2r Thl. S. 304.
**) S. Geiſt des H. v. Leibnitz u. ſ. w. Aus d. Franz. uͤberſetzt. Wittenberg 1775. 1r Thl. S. 70.
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mung ſo ſeltener Erfahrungen nicht mit der moͤglichſten Um-
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Oſiander *) ſehr beypflichten, wenn er gegen die erſtern
den Montaigne anfuͤhrt, welcher die Art uͤber Aehnliches im
Voraus abzuurtheilen bitter tadelt, und gedenken hierbey auch
Leibnitzens, welcher bey Gelegenheit des Atheismus be-
merkt, daß Leichtglaͤubigkeit und Unglaͤubigkeit ſich oft ſon-
derbar vermiſchen, ja daß zuweilen nur der eigene Vor-
theil diktirt, was geglaubt und was nicht geglaubt werden
ſolle **); — eine Meynung, welche vielleicht ganz beſonders
an ſolche Aerzte erinnern koͤnnte, bey denen nichts Glauben
findet, was der bequemen Praxis des Receptſchreibeus hin-
derlich werden moͤchte.
§. 245.
Fragt man aber zuvoͤrderſt, ob Erſcheinungen dieſer Art
wirklich mit der Natur des menſchlichen Koͤrpers, wie wir
ſie ſonſt kennen, in vollkommnem Widerſpruch ſtehen oder
nicht, ſo ſcheint uns ſoviel ſicher, daß allerdings eigentliches
Sehen, eigentliches Hoͤren u. ſ. w. außer mittelſt der fuͤr
dieſen Sinn beſtimmten Werkzeuge nicht Statt finden
koͤnne; allein dieſes anzunehmen finden wir auch in den zu
erwaͤhnenden Beobachtungen keinen Grund, indem man ins-
beſondre feſthalten muß, daß die Natur ein Ganzes, in un-
endlichen Kraͤften ſich wechſelſeitig Durchdringendes iſt, daß
alle Dinge durch einander exiſtiren, daß daher in einem
des Gefuͤhls faͤhigen Koͤrper die mannigfaltigen aͤußern Ver-
aͤnderungen auch als Umſtimmungen dieſes Gefuͤhls ſich noth-
wendig abſpiegeln muͤſſen, wobey es jedoch geſchehen kann,
daß nur ein Theil dieſer Umſtimmungen zum Bewußtſeyn
kommt, ja daß ſie ſchon ohne Bewußtſeyn die Thaͤtigkeit des
Koͤrpers umaͤndern (wohin die Triebe und Inſtinkte niederer
Thiere (§. 231.) gehoͤren). Nun iſt aber uͤberhaupt das,
*) A. a. O. 2r Thl. S. 304.
**) S. Geiſt des H. v. Leibnitz u. ſ. w. Aus d. Franz. uͤberſetzt.
Wittenberg 1775. 1r Thl. S. 70.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/206>, abgerufen am 21.11.2024.
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