1. Der Empirismus stellt die nackten Beobach- tungsschätze hin, ohne sie durch höhere Principien irgend ei- ner Art unter einander zu verbinden, und sieht nur auf das, was der Beobachtung in einzelnen Fällen zunächst liegt. Er stützt sich blos auf Analogie (§. 75), und kann also auch sein Verfahren in den einzelnen Krankheitsfällen nicht voll- kommen modificiren (§. 76), weil er in denselben keine Mo- dification der Erscheinungen nach ihren Ursachen wahrnimmt. Er gehört also in das Kindesalter der Heilkunst, und kann unr als ihr Vorläufer angesehen werden.
§ 117.
2. Der Eklekticismus geht von Beobachtun- gen aus, erhebt einzelne derselben zu allgemeinen Sätzen, ohne aber diese wieder durch allgemeine Principien zu einem vollständigen Ganzen zu verbinden. Weil ihn kein System hinlänglich befriedigt, so wählt er aus jedem derselben die- jenigen Sätze, welche die Naturerscheinungen am getreusten darstellen, und bedient sich also einer unvollständigen Induc- tion. Es ist dies das aufwachende Gefühl des noch unbe- friedigten Bedürfnisses eines Systems.
§ 118.
3. Der Dogmatismus, oder der systematische (sich selbst nennt er den rationellen) Dogmatismus, geht von einer, an dem Menschen angestellten Beobachtung aus, wel- che entweder selbst unrichtig, oder zwar gegründet ist, aber sich nur auf einen Theil seines Wesens bezieht, und leitet daraus, als aus einem obersten Principe, die Erklärung aller Erscheinungen im gesunden, kranken und genesenden
Men-
Erſter Theil.
§ 116.
1. Der Empirismus ſtellt die nackten Beobach- tungsſchaͤtze hin, ohne ſie durch hoͤhere Principien irgend ei- ner Art unter einander zu verbinden, und ſieht nur auf das, was der Beobachtung in einzelnen Faͤllen zunaͤchſt liegt. Er ſtuͤtzt ſich blos auf Analogie (§. 75), und kann alſo auch ſein Verfahren in den einzelnen Krankheitsfaͤllen nicht voll- kommen modificiren (§. 76), weil er in denſelben keine Mo- dification der Erſcheinungen nach ihren Urſachen wahrnimmt. Er gehoͤrt alſo in das Kindesalter der Heilkunſt, und kann unr als ihr Vorlaͤufer angeſehen werden.
§ 117.
2. Der Eklekticismus geht von Beobachtun- gen aus, erhebt einzelne derſelben zu allgemeinen Saͤtzen, ohne aber dieſe wieder durch allgemeine Principien zu einem vollſtaͤndigen Ganzen zu verbinden. Weil ihn kein Syſtem hinlaͤnglich befriedigt, ſo waͤhlt er aus jedem derſelben die- jenigen Saͤtze, welche die Naturerſcheinungen am getreuſten darſtellen, und bedient ſich alſo einer unvollſtaͤndigen Induc- tion. Es iſt dies das aufwachende Gefuͤhl des noch unbe- friedigten Beduͤrfniſſes eines Syſtems.
§ 118.
3. Der Dogmatismus, oder der ſyſtematiſche (ſich ſelbſt nennt er den rationellen) Dogmatismus, geht von einer, an dem Menſchen angeſtellten Beobachtung aus, wel- che entweder ſelbſt unrichtig, oder zwar gegruͤndet iſt, aber ſich nur auf einen Theil ſeines Weſens bezieht, und leitet daraus, als aus einem oberſten Principe, die Erklaͤrung aller Erſcheinungen im geſunden, kranken und geneſenden
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Erſter Theil.
§ 116.
1. Der Empirismus ſtellt die nackten Beobach-
tungsſchaͤtze hin, ohne ſie durch hoͤhere Principien irgend ei-
ner Art unter einander zu verbinden, und ſieht nur auf das,
was der Beobachtung in einzelnen Faͤllen zunaͤchſt liegt.
Er ſtuͤtzt ſich blos auf Analogie (§. 75), und kann alſo auch
ſein Verfahren in den einzelnen Krankheitsfaͤllen nicht voll-
kommen modificiren (§. 76), weil er in denſelben keine Mo-
dification der Erſcheinungen nach ihren Urſachen wahrnimmt.
Er gehoͤrt alſo in das Kindesalter der Heilkunſt, und kann
unr als ihr Vorlaͤufer angeſehen werden.
§ 117.
2. Der Eklekticismus geht von Beobachtun-
gen aus, erhebt einzelne derſelben zu allgemeinen Saͤtzen,
ohne aber dieſe wieder durch allgemeine Principien zu einem
vollſtaͤndigen Ganzen zu verbinden. Weil ihn kein Syſtem
hinlaͤnglich befriedigt, ſo waͤhlt er aus jedem derſelben die-
jenigen Saͤtze, welche die Naturerſcheinungen am getreuſten
darſtellen, und bedient ſich alſo einer unvollſtaͤndigen Induc-
tion. Es iſt dies das aufwachende Gefuͤhl des noch unbe-
friedigten Beduͤrfniſſes eines Syſtems.
§ 118.
3. Der Dogmatismus, oder der ſyſtematiſche (ſich
ſelbſt nennt er den rationellen) Dogmatismus, geht von
einer, an dem Menſchen angeſtellten Beobachtung aus, wel-
che entweder ſelbſt unrichtig, oder zwar gegruͤndet iſt, aber
ſich nur auf einen Theil ſeines Weſens bezieht, und leitet
daraus, als aus einem oberſten Principe, die Erklaͤrung
aller Erſcheinungen im geſunden, kranken und geneſenden
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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/58>, abgerufen am 16.07.2024.
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