Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.Das Gewohnheitsrecht. 3. Kapitel. Das Gewohnheitsrecht. Das Gesetzesrecht (und das Verordnungsrecht) bedarf keiner Die Frage wird beherrscht durch den Gegensatz von gesetztem 1 Worauf wir S. 125 Anm. 2 hingewiesen haben. Der Mangel dieses
Rechtszustandes besteht nicht im Widerspruch des Dualismus zweier Rechts- quellen, wie er hier vorliegt, sondern in der Unbestimmtheit und Unsicher- heit des objektiven Rechts, dessen Sätze aus Einzelentscheidungen ab- strahiert werden müssen und aus Entscheidungen, die sich widersprechen und verändern können. Dieser Mangel kann aber tatsächlich in Zeiten stabiler Rechtsanschauungen und Rechtsprechung sehr zurücktreten; was rechtens ist, wird dann auch im Grundsatz ebenso feststehen und ebenso sicher sein, wie wenn es durch einen Gesetzgeber seine Gedanken mangelhaft formuliert und oft ändert, kann die Unsicherheit viel größer sein, als wo das Recht auf einer ständigen und folgerichtigen Praxis beruht. Die Rechtssicherheit war in Rom und ist in England (im Gebiete des Privat- rechts) sicher nicht geringer, als sie etwa in Athen war und in kontinentalen Staaten (mit kodifiziertem Privatrecht) ist. Nur kann jeder Einzelentscheid Das Gewohnheitsrecht. 3. Kapitel. Das Gewohnheitsrecht. Das Gesetzesrecht (und das Verordnungsrecht) bedarf keiner Die Frage wird beherrscht durch den Gegensatz von gesetztem 1 Worauf wir S. 125 Anm. 2 hingewiesen haben. Der Mangel dieses
Rechtszustandes besteht nicht im Widerspruch des Dualismus zweier Rechts- quellen, wie er hier vorliegt, sondern in der Unbestimmtheit und Unsicher- heit des objektiven Rechts, dessen Sätze aus Einzelentscheidungen ab- strahiert werden müssen und aus Entscheidungen, die sich widersprechen und verändern können. Dieser Mangel kann aber tatsächlich in Zeiten stabiler Rechtsanschauungen und Rechtsprechung sehr zurücktreten; was rechtens ist, wird dann auch im Grundsatz ebenso feststehen und ebenso sicher sein, wie wenn es durch einen Gesetzgeber seine Gedanken mangelhaft formuliert und oft ändert, kann die Unsicherheit viel größer sein, als wo das Recht auf einer ständigen und folgerichtigen Praxis beruht. Die Rechtssicherheit war in Rom und ist in England (im Gebiete des Privat- rechts) sicher nicht geringer, als sie etwa in Athen war und in kontinentalen Staaten (mit kodifiziertem Privatrecht) ist. Nur kann jeder Einzelentscheid <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0238" n="223"/> <fw place="top" type="header">Das Gewohnheitsrecht.</fw><lb/> <div n="3"> <head>3. <hi rendition="#g">Kapitel</hi>.<lb/> Das Gewohnheitsrecht.</head><lb/> <p>Das Gesetzesrecht (und das Verordnungsrecht) bedarf keiner<lb/> besonderen Erklärung: wenn die Verfassung verbindlich ist, ist<lb/> auch das Gesetz verbindlich; denn die Ordnung der Gesetzgebung<lb/> ist ja die wesentliche Aufgabe der Verfassung. Gibt es aber außer<lb/> dem Gesetzesrecht noch anderes geltendes objektives Recht? Gibt<lb/> es Rechtssätze, die gelten, ohne vom Gesetzgeber anerkannt worden<lb/> zu sein; weil sie tatsächlich längere Zeit geübt und angewendet<lb/> worden sind? Das ist die Frage. Sie stellt sich für die rechts-<lb/> anwendende Behörde, die verpflichtet ist, sich an das Recht, das<lb/> geltende objektive Recht zu halten und deshalb sich schlüssig<lb/> machen muß, ob es neben dem gesetzten Recht noch anderes<lb/> geltendes Recht gibt.</p><lb/> <p>Die Frage wird beherrscht durch den Gegensatz von gesetztem<lb/> und nicht gesetztem Recht; und ebenso durch den damit ver-<lb/> wandten Gegensatz von Rechtssetzung und Rechtsanwendung.<lb/> Wenn die Verfassung die Rechtssetzung als besondere Zuständig-<lb/> keit ordnet und die Anwendung dieses Rechts (durch andere Be-<lb/> hörden) vorsieht, wie sollen die rechtsanwendenden Behörden da-<lb/> neben noch anderes Recht anerkennen und es, indem sie es an-<lb/> wenden, gewissermaßen schaffen? Gäbe es aber in einem Staate<lb/> keine gesetzgebenden Behörden, sondern nur rechtsanwendende<note xml:id="seg2pn_34_1" next="#seg2pn_34_2" place="foot" n="1">Worauf wir S. 125 Anm. 2 hingewiesen haben. Der Mangel <hi rendition="#g">dieses</hi><lb/> Rechtszustandes besteht nicht im Widerspruch des Dualismus zweier Rechts-<lb/> quellen, wie er hier vorliegt, sondern in der Unbestimmtheit und Unsicher-<lb/> heit des objektiven Rechts, dessen Sätze aus Einzelentscheidungen ab-<lb/> strahiert werden müssen und aus Entscheidungen, die sich widersprechen<lb/> und verändern können. Dieser Mangel kann aber tatsächlich in Zeiten<lb/> stabiler Rechtsanschauungen und Rechtsprechung sehr zurücktreten; was<lb/> rechtens ist, wird dann auch im Grundsatz ebenso feststehen und ebenso<lb/> sicher sein, wie wenn es durch einen Gesetzgeber seine Gedanken<lb/> mangelhaft formuliert und oft ändert, kann die Unsicherheit viel größer<lb/> sein, als wo das Recht auf einer ständigen und folgerichtigen Praxis beruht.<lb/> Die Rechtssicherheit war in Rom und ist in England (im Gebiete des Privat-<lb/> rechts) sicher nicht geringer, als sie etwa in Athen war und in kontinentalen<lb/> Staaten (mit kodifiziertem Privatrecht) ist. Nur kann jeder Einzelentscheid</note>,<lb/> so entstünde auch die Frage nicht.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [223/0238]
Das Gewohnheitsrecht.
3. Kapitel.
Das Gewohnheitsrecht.
Das Gesetzesrecht (und das Verordnungsrecht) bedarf keiner
besonderen Erklärung: wenn die Verfassung verbindlich ist, ist
auch das Gesetz verbindlich; denn die Ordnung der Gesetzgebung
ist ja die wesentliche Aufgabe der Verfassung. Gibt es aber außer
dem Gesetzesrecht noch anderes geltendes objektives Recht? Gibt
es Rechtssätze, die gelten, ohne vom Gesetzgeber anerkannt worden
zu sein; weil sie tatsächlich längere Zeit geübt und angewendet
worden sind? Das ist die Frage. Sie stellt sich für die rechts-
anwendende Behörde, die verpflichtet ist, sich an das Recht, das
geltende objektive Recht zu halten und deshalb sich schlüssig
machen muß, ob es neben dem gesetzten Recht noch anderes
geltendes Recht gibt.
Die Frage wird beherrscht durch den Gegensatz von gesetztem
und nicht gesetztem Recht; und ebenso durch den damit ver-
wandten Gegensatz von Rechtssetzung und Rechtsanwendung.
Wenn die Verfassung die Rechtssetzung als besondere Zuständig-
keit ordnet und die Anwendung dieses Rechts (durch andere Be-
hörden) vorsieht, wie sollen die rechtsanwendenden Behörden da-
neben noch anderes Recht anerkennen und es, indem sie es an-
wenden, gewissermaßen schaffen? Gäbe es aber in einem Staate
keine gesetzgebenden Behörden, sondern nur rechtsanwendende 1,
so entstünde auch die Frage nicht.
1 Worauf wir S. 125 Anm. 2 hingewiesen haben. Der Mangel dieses
Rechtszustandes besteht nicht im Widerspruch des Dualismus zweier Rechts-
quellen, wie er hier vorliegt, sondern in der Unbestimmtheit und Unsicher-
heit des objektiven Rechts, dessen Sätze aus Einzelentscheidungen ab-
strahiert werden müssen und aus Entscheidungen, die sich widersprechen
und verändern können. Dieser Mangel kann aber tatsächlich in Zeiten
stabiler Rechtsanschauungen und Rechtsprechung sehr zurücktreten; was
rechtens ist, wird dann auch im Grundsatz ebenso feststehen und ebenso
sicher sein, wie wenn es durch einen Gesetzgeber seine Gedanken
mangelhaft formuliert und oft ändert, kann die Unsicherheit viel größer
sein, als wo das Recht auf einer ständigen und folgerichtigen Praxis beruht.
Die Rechtssicherheit war in Rom und ist in England (im Gebiete des Privat-
rechts) sicher nicht geringer, als sie etwa in Athen war und in kontinentalen
Staaten (mit kodifiziertem Privatrecht) ist. Nur kann jeder Einzelentscheid
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