kalt? ....... -- Dieser Brief ist ein Charivari: ich tröste dich mit einem andern.
2.
Gießen 1833.
... Ich dürste nach einem Briefe. Ich bin allein, wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand? Meine Freunde verlassen mich, wir schreien uns wie Taube einander in die Ohren; ich wollte, wir wären stumm, dann könnten wir uns doch nur ansehen, und in neuen Zeiten kann ich kaum Jemand starr anblicken, ohne daß mir die Thränen kämen. Es ist dies eine Augenwassersucht, die auch beim Starrsehen oft vorkommt. Sie sagen, ich sei verrückt, weil ich gesagt habe, in sechs Wochen würde ich auferstehen, zuerst aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich. Lebe wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram macht mich dir streitig, ich lieg' ihm den ganzen Tag im Schooß; armes Herz, ich glaube, du vergiltst mit Gleichem....
3.
Gießen 1833.
... Der erste helle Augenblick seit acht Tagen. Un- aufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein Bett, und dann ein beständiges Auffahren aus dem Schlaf und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne ver- gehen. Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibst du? Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, fortfallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende
kalt? ....... — Dieſer Brief iſt ein Charivari: ich tröſte dich mit einem andern.
2.
Gießen 1833.
... Ich dürſte nach einem Briefe. Ich bin allein, wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand? Meine Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns wie Taube einander in die Ohren; ich wollte, wir wären ſtumm, dann könnten wir uns doch nur anſehen, und in neuen Zeiten kann ich kaum Jemand ſtarr anblicken, ohne daß mir die Thränen kämen. Es iſt dies eine Augenwaſſerſucht, die auch beim Starrſehen oft vorkommt. Sie ſagen, ich ſei verrückt, weil ich geſagt habe, in ſechs Wochen würde ich auferſtehen, zuerſt aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich. Lebe wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram macht mich dir ſtreitig, ich lieg' ihm den ganzen Tag im Schooß; armes Herz, ich glaube, du vergiltſt mit Gleichem....
3.
Gießen 1833.
... Der erſte helle Augenblick ſeit acht Tagen. Un- aufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein Bett, und dann ein beſtändiges Auffahren aus dem Schlaf und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne ver- gehen. Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibſt du? Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, fortfallender Ton aus tauſend Lerchenkehlen ſchlägt durch die brütende
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0569"n="373"/>
kalt? ....... — Dieſer Brief iſt ein Charivari: ich<lb/>
tröſte dich mit einem andern.</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#c">2.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#g">Gießen</hi> 1833.</dateline><lb/><p>... Ich dürſte nach einem Briefe. Ich bin allein,<lb/>
wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand? Meine<lb/>
Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns wie Taube einander<lb/>
in die Ohren; ich wollte, wir wären ſtumm, dann könnten<lb/>
wir uns doch nur anſehen, und in neuen Zeiten kann ich<lb/>
kaum Jemand ſtarr anblicken, ohne daß mir die Thränen<lb/>
kämen. Es iſt dies eine Augenwaſſerſucht, die auch beim<lb/>
Starrſehen oft vorkommt. Sie ſagen, ich ſei verrückt, weil<lb/>
ich geſagt habe, in ſechs Wochen würde ich auferſtehen, zuerſt<lb/>
aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich. Lebe<lb/>
wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram macht<lb/>
mich dir ſtreitig, ich lieg' ihm den ganzen Tag im Schooß;<lb/>
armes Herz, ich glaube, du vergiltſt mit Gleichem....</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#c">3.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#g">Gießen</hi> 1833.</dateline><lb/><p>... Der erſte helle Augenblick ſeit acht Tagen. Un-<lb/>
aufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige<lb/>
Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein<lb/>
Bett, und dann ein beſtändiges Auffahren aus dem Schlaf<lb/>
und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne ver-<lb/>
gehen. Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte<lb/>
ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibſt du? Eben<lb/>
komme ich von draußen herein. Ein einziger, fortfallender<lb/>
Ton aus tauſend Lerchenkehlen ſchlägt durch die brütende<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[373/0569]
kalt? ....... — Dieſer Brief iſt ein Charivari: ich
tröſte dich mit einem andern.
2.
Gießen 1833.
... Ich dürſte nach einem Briefe. Ich bin allein,
wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand? Meine
Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns wie Taube einander
in die Ohren; ich wollte, wir wären ſtumm, dann könnten
wir uns doch nur anſehen, und in neuen Zeiten kann ich
kaum Jemand ſtarr anblicken, ohne daß mir die Thränen
kämen. Es iſt dies eine Augenwaſſerſucht, die auch beim
Starrſehen oft vorkommt. Sie ſagen, ich ſei verrückt, weil
ich geſagt habe, in ſechs Wochen würde ich auferſtehen, zuerſt
aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich. Lebe
wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram macht
mich dir ſtreitig, ich lieg' ihm den ganzen Tag im Schooß;
armes Herz, ich glaube, du vergiltſt mit Gleichem....
3.
Gießen 1833.
... Der erſte helle Augenblick ſeit acht Tagen. Un-
aufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige
Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein
Bett, und dann ein beſtändiges Auffahren aus dem Schlaf
und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne ver-
gehen. Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte
ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibſt du? Eben
komme ich von draußen herein. Ein einziger, fortfallender
Ton aus tauſend Lerchenkehlen ſchlägt durch die brütende
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/569>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.