Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 137. Die Wirdira (dilatura).
§ 137. Die Wirdira (dilatura).

Heineccius, Elementa juris germ. II 20. Grimm, RA S. 655. Derselbe in
Merkels Lex Salica p. LXXXV. v. Woringen, Beiträge S. 74 f. Wilda,
Strafrecht S. 901. Waitz, Altes Recht S. 197 ff. Gaupp, Lex Francorum
Chamavorum S. 77 ff. Gengler, Grundriss S. 365. v. Richthofen in LL V 130.
Anm. 71. Vanderkindere, La dilatura dans les textes francs, Extrait du tome
XLI des memoires publ. par l'academie royale de Belgique 1888.

In den Volksrechten der Salier, der Ribuarier, der Chamaven,
der Anglowarnen und in salischen Kapitularien findet sich eine Busse,
die als dilatura, delatura, dilatio1, wirdria, wirdira bezeichnet wird2.

Die Bedeutung der Busse ist streitig und zweifelhaft. Man er-
klärt sie als Anzeigelohn3, als Verzugsbusse4, als Leugnungsbusse5,
als Ersatz der Gerichtskosten6 oder als Ersatz der entgangenen
Früchte, des lucrum cessans7, oder als ein eigenartiges Strafgeld8.

Dilatura wird nur bei bestimmten Missethaten fällig. Regel-
mässig erscheint sie bei Verbrechen gegen das Eigentum, insbesondere
bei Diebstahl, ausserdem bei Raub, Brandstiftung und Vermögens-
beschädigungen. Eine Stelle des Heroldschen Textes der Lex Salica
erwähnt sie auch aus Anlass eines Todschlags9. Doch scheint es sich

1 Statt dilatura steht dilatio in Lex Rib. 33, 2 (Herold) und 54, 1 (Codex B 12).
2 Das Trierer Fragment einer Übersetzung der Lex Salica giebt die Wendung:
excepto capitale et dilatura wieder mit den Worten: forauzan haupitgelt inti wir-
drjaun. Die Lex Chamavorum sagt wirdira. Das Wort ist aus wirdar, einer Neben-
form von widar, wider, zu erklären. Wirdron, widaron, weigern, sich widersetzen,
hindern. Widarunga repudium. Vgl. niederl. wedderen, weigern. Graff, Sprachsch.
I 641 f. Schade WB S. 1139. Eine Glosse zu Lex Rib. 17, 1 erläutert dilatura
als: quod longe est, quod non persolvitur; eine andere hat: vel totidem, laiscat.
Scat ist Schatz. Aus totidem ist man versucht auf Gleichschatz (recompensatio) zu
schliessen. Eine Pithou'sche Glosse hat delatura: fredo.
3 Entsprechend dem Anzeigelohn, meldfeoh der Angelsachsen, in der vetus
versio zu Ine 17 mit pecunia indicationis vel delatura übersetzt. Grimm RA S. 655,
Wilda, Strafr. S. 901.
4 Heineccius, Grimm bei Merkel, v. Richthofen a. O. Hessels, Lex
Sal. Sp. 601 u. a.
5 Siehe Geib, Strafr. I 176.
6 Wiarda, Gesch. u. Auslegung des sal. Gesetzes S. 281.
7 So Vanderkindere a. O. Entschädigung für das Entbehren der Sache
nach v. Woringen a. O.
8 Waitz, Altes Recht S. 199.
9 Lex Sal. (Hessels) Extrav. A 6 (Herold 79).
§ 137. Die Wirdira (dilatura).
§ 137. Die Wirdira (dilatura).

Heineccius, Elementa juris germ. II 20. Grimm, RA S. 655. Derselbe in
Merkels Lex Salica p. LXXXV. v. Woringen, Beiträge S. 74 f. Wilda,
Strafrecht S. 901. Waitz, Altes Recht S. 197 ff. Gaupp, Lex Francorum
Chamavorum S. 77 ff. Gengler, Grundriſs S. 365. v. Richthofen in LL V 130.
Anm. 71. Vanderkindere, La dilatura dans les textes francs, Extrait du tome
XLI des mémoires publ. par l’académie royale de Belgique 1888.

In den Volksrechten der Salier, der Ribuarier, der Chamaven,
der Anglowarnen und in salischen Kapitularien findet sich eine Buſse,
die als dilatura, delatura, dilatio1, wirdria, wirdira bezeichnet wird2.

Die Bedeutung der Buſse ist streitig und zweifelhaft. Man er-
klärt sie als Anzeigelohn3, als Verzugsbuſse4, als Leugnungsbuſse5,
als Ersatz der Gerichtskosten6 oder als Ersatz der entgangenen
Früchte, des lucrum cessans7, oder als ein eigenartiges Strafgeld8.

Dilatura wird nur bei bestimmten Missethaten fällig. Regel-
mäſsig erscheint sie bei Verbrechen gegen das Eigentum, insbesondere
bei Diebstahl, auſserdem bei Raub, Brandstiftung und Vermögens-
beschädigungen. Eine Stelle des Heroldschen Textes der Lex Salica
erwähnt sie auch aus Anlaſs eines Todschlags9. Doch scheint es sich

1 Statt dilatura steht dilatio in Lex Rib. 33, 2 (Herold) und 54, 1 (Codex B 12).
2 Das Trierer Fragment einer Übersetzung der Lex Salica giebt die Wendung:
excepto capitale et dilatura wieder mit den Worten: forûzan haupitgelt inti wir-
đrjûn. Die Lex Chamavorum sagt wirdira. Das Wort ist aus wirdar, einer Neben-
form von widar, wider, zu erklären. Wirdrôn, widarôn, weigern, sich widersetzen,
hindern. Widarunga repudium. Vgl. niederl. wedderen, weigern. Graff, Sprachsch.
I 641 f. Schade WB S. 1139. Eine Glosse zu Lex Rib. 17, 1 erläutert dilatura
als: quod longe est, quod non persolvitur; eine andere hat: vel totidem, laiscat.
Scat ist Schatz. Aus totidem ist man versucht auf Gleichschatz (recompensatio) zu
schlieſsen. Eine Pithou’sche Glosse hat delatura: fredo.
3 Entsprechend dem Anzeigelohn, meldfeoh der Angelsachsen, in der vetus
versio zu Ine 17 mit pecunia indicationis vel delatura übersetzt. Grimm RA S. 655,
Wilda, Strafr. S. 901.
4 Heineccius, Grimm bei Merkel, v. Richthofen a. O. Hessels, Lex
Sal. Sp. 601 u. a.
5 Siehe Geib, Strafr. I 176.
6 Wiarda, Gesch. u. Auslegung des sal. Gesetzes S. 281.
7 So Vanderkindere a. O. Entschädigung für das Entbehren der Sache
nach v. Woringen a. O.
8 Waitz, Altes Recht S. 199.
9 Lex Sal. (Hessels) Extrav. A 6 (Herold 79).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0642" n="624"/>
          <fw place="top" type="header">§ 137. Die Wirdira (dilatura).</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 137. <hi rendition="#g">Die Wirdira (dilatura)</hi>.</head><lb/>
            <p>
              <bibl><hi rendition="#g">Heineccius</hi>, Elementa juris germ. II 20. <hi rendition="#g">Grimm</hi>, RA S. 655. <hi rendition="#g">Derselbe</hi> in<lb/>
Merkels Lex Salica p. LXXXV. v. <hi rendition="#g">Woringen</hi>, Beiträge S. 74 f. <hi rendition="#g">Wilda</hi>,<lb/>
Strafrecht S. 901. <hi rendition="#g">Waitz</hi>, Altes Recht S. 197 ff. <hi rendition="#g">Gaupp</hi>, Lex Francorum<lb/>
Chamavorum S. 77 ff. <hi rendition="#g">Gengler</hi>, Grundri&#x017F;s S. 365. v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi> in LL V 130.<lb/>
Anm. 71. <hi rendition="#g">Vanderkindere</hi>, La dilatura dans les textes francs, Extrait du tome<lb/><hi rendition="#c">XLI des mémoires publ. par l&#x2019;académie royale de Belgique 1888.</hi></bibl>
            </p><lb/>
            <p>In den Volksrechten der Salier, der Ribuarier, der Chamaven,<lb/>
der Anglowarnen und in salischen Kapitularien findet sich eine Bu&#x017F;se,<lb/>
die als dilatura, delatura, dilatio<note place="foot" n="1">Statt dilatura steht dilatio in Lex Rib. 33, 2 (Herold) und 54, 1 (Codex B 12).</note>, wirdria, wirdira bezeichnet wird<note place="foot" n="2">Das Trierer Fragment einer Übersetzung der Lex Salica giebt die Wendung:<lb/>
excepto capitale et dilatura wieder mit den Worten: forûzan haupitgelt inti wir-<lb/>
&#x0111;rjûn. Die Lex Chamavorum sagt wirdira. Das Wort ist aus wirdar, einer Neben-<lb/>
form von widar, wider, zu erklären. Wirdrôn, widarôn, weigern, sich widersetzen,<lb/>
hindern. Widarunga repudium. Vgl. niederl. wedderen, weigern. <hi rendition="#g">Graff</hi>, Sprachsch.<lb/>
I 641 f. <hi rendition="#g">Schade</hi> WB S. 1139. Eine Glosse zu Lex Rib. 17, 1 erläutert dilatura<lb/>
als: quod longe est, quod non persolvitur; eine andere hat: vel totidem, laiscat.<lb/>
Scat ist Schatz. Aus totidem ist man versucht auf Gleichschatz (recompensatio) zu<lb/>
schlie&#x017F;sen. Eine Pithou&#x2019;sche Glosse hat delatura: fredo.</note>.</p><lb/>
            <p>Die Bedeutung der Bu&#x017F;se ist streitig und zweifelhaft. Man er-<lb/>
klärt sie als Anzeigelohn<note place="foot" n="3">Entsprechend dem Anzeigelohn, meldfeoh der Angelsachsen, in der vetus<lb/>
versio zu Ine 17 mit pecunia indicationis vel delatura übersetzt. <hi rendition="#g">Grimm</hi> RA S. 655,<lb/><hi rendition="#g">Wilda</hi>, Strafr. S. 901.</note>, als Verzugsbu&#x017F;se<note place="foot" n="4"><hi rendition="#g">Heineccius, Grimm</hi> bei Merkel, v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi> a. O. <hi rendition="#g">Hessels</hi>, Lex<lb/>
Sal. Sp. 601 u. a.</note>, als Leugnungsbu&#x017F;se<note place="foot" n="5">Siehe <hi rendition="#g">Geib</hi>, Strafr. I 176.</note>,<lb/>
als Ersatz der Gerichtskosten<note place="foot" n="6"><hi rendition="#g">Wiarda</hi>, Gesch. u. Auslegung des sal. Gesetzes S. 281.</note> oder als Ersatz der entgangenen<lb/>
Früchte, des lucrum cessans<note place="foot" n="7">So <hi rendition="#g">Vanderkindere</hi> a. O. Entschädigung für das Entbehren der Sache<lb/>
nach v. <hi rendition="#g">Woringen</hi> a. O.</note>, oder als ein eigenartiges Strafgeld<note place="foot" n="8"><hi rendition="#g">Waitz</hi>, Altes Recht S. 199.</note>.</p><lb/>
            <p>Dilatura wird nur bei bestimmten Missethaten fällig. Regel-<lb/>&#x017F;sig erscheint sie bei Verbrechen gegen das Eigentum, insbesondere<lb/>
bei Diebstahl, au&#x017F;serdem bei Raub, Brandstiftung und Vermögens-<lb/>
beschädigungen. Eine Stelle des Heroldschen Textes der Lex Salica<lb/>
erwähnt sie auch aus Anla&#x017F;s eines Todschlags<note place="foot" n="9">Lex Sal. (Hessels) Extrav. A 6 (Herold 79).</note>. Doch scheint es sich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[624/0642] § 137. Die Wirdira (dilatura). § 137. Die Wirdira (dilatura). Heineccius, Elementa juris germ. II 20. Grimm, RA S. 655. Derselbe in Merkels Lex Salica p. LXXXV. v. Woringen, Beiträge S. 74 f. Wilda, Strafrecht S. 901. Waitz, Altes Recht S. 197 ff. Gaupp, Lex Francorum Chamavorum S. 77 ff. Gengler, Grundriſs S. 365. v. Richthofen in LL V 130. Anm. 71. Vanderkindere, La dilatura dans les textes francs, Extrait du tome XLI des mémoires publ. par l’académie royale de Belgique 1888. In den Volksrechten der Salier, der Ribuarier, der Chamaven, der Anglowarnen und in salischen Kapitularien findet sich eine Buſse, die als dilatura, delatura, dilatio 1, wirdria, wirdira bezeichnet wird 2. Die Bedeutung der Buſse ist streitig und zweifelhaft. Man er- klärt sie als Anzeigelohn 3, als Verzugsbuſse 4, als Leugnungsbuſse 5, als Ersatz der Gerichtskosten 6 oder als Ersatz der entgangenen Früchte, des lucrum cessans 7, oder als ein eigenartiges Strafgeld 8. Dilatura wird nur bei bestimmten Missethaten fällig. Regel- mäſsig erscheint sie bei Verbrechen gegen das Eigentum, insbesondere bei Diebstahl, auſserdem bei Raub, Brandstiftung und Vermögens- beschädigungen. Eine Stelle des Heroldschen Textes der Lex Salica erwähnt sie auch aus Anlaſs eines Todschlags 9. Doch scheint es sich 1 Statt dilatura steht dilatio in Lex Rib. 33, 2 (Herold) und 54, 1 (Codex B 12). 2 Das Trierer Fragment einer Übersetzung der Lex Salica giebt die Wendung: excepto capitale et dilatura wieder mit den Worten: forûzan haupitgelt inti wir- đrjûn. Die Lex Chamavorum sagt wirdira. Das Wort ist aus wirdar, einer Neben- form von widar, wider, zu erklären. Wirdrôn, widarôn, weigern, sich widersetzen, hindern. Widarunga repudium. Vgl. niederl. wedderen, weigern. Graff, Sprachsch. I 641 f. Schade WB S. 1139. Eine Glosse zu Lex Rib. 17, 1 erläutert dilatura als: quod longe est, quod non persolvitur; eine andere hat: vel totidem, laiscat. Scat ist Schatz. Aus totidem ist man versucht auf Gleichschatz (recompensatio) zu schlieſsen. Eine Pithou’sche Glosse hat delatura: fredo. 3 Entsprechend dem Anzeigelohn, meldfeoh der Angelsachsen, in der vetus versio zu Ine 17 mit pecunia indicationis vel delatura übersetzt. Grimm RA S. 655, Wilda, Strafr. S. 901. 4 Heineccius, Grimm bei Merkel, v. Richthofen a. O. Hessels, Lex Sal. Sp. 601 u. a. 5 Siehe Geib, Strafr. I 176. 6 Wiarda, Gesch. u. Auslegung des sal. Gesetzes S. 281. 7 So Vanderkindere a. O. Entschädigung für das Entbehren der Sache nach v. Woringen a. O. 8 Waitz, Altes Recht S. 199. 9 Lex Sal. (Hessels) Extrav. A 6 (Herold 79).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/642
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/642>, abgerufen am 21.12.2024.