Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmässigen Beaufsich-
tigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht
gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten
Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen
Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte
oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungieren-
den Familienrates herabdrückte.

Die Geschlossenheit der Sippe äusserte sich, zumal seit die
Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von
Verwandtschaftsehen. Der Einfluss, den die Sippe auf die Ver-
ehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das
Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu
halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen
zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen
verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem
Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den
kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den leb-
haften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre
Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschliessung zu
zersetzen 38.

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; derselbe, Über
das Wergelds- u. Bussensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen
Abhandlungen 1853; derselbe, Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff.
99 ff. Guerard, Polyptyque de l'abbe Irminon I 203 ff. August Chabert,
Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener
Akad. III. IV, 1852. 1853. Naudet, De l'etat des personnes en France sous les
rois de la premiere race, in den Memoires de l'acad. des inscriptions et belles lettres
VIII 1827. Waitz, VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14.

Als Massstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit
die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten
Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermässigem Ausdruck. Dem
höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht bloss für
die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten
ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten
erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der
Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die

38 E. Loening, Kirchenrecht S 546 f. Über die kulturhistorische Bedeutung
des Ehehindernisses der Verwandtschaft s. Richter-Dove, Kirchenrecht § 275.

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmäſsigen Beaufsich-
tigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht
gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten
Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen
Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte
oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungieren-
den Familienrates herabdrückte.

Die Geschlossenheit der Sippe äuſserte sich, zumal seit die
Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von
Verwandtschaftsehen. Der Einfluſs, den die Sippe auf die Ver-
ehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das
Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu
halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen
zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen
verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem
Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den
kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den leb-
haften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre
Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschlieſsung zu
zersetzen 38.

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; derselbe, Über
das Wergelds- u. Buſsensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen
Abhandlungen 1853; derselbe, Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff.
99 ff. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 203 ff. August Chabert,
Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener
Akad. III. IV, 1852. 1853. Naudet, De l’état des personnes en France sous les
rois de la première race, in den Mémoires de l’acad. des inscriptions et belles lettres
VIII 1827. Waitz, VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14.

Als Maſsstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit
die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten
Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermäſsigem Ausdruck. Dem
höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht bloſs für
die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten
ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten
erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der
Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die

38 E. Loening, Kirchenrecht S 546 f. Über die kulturhistorische Bedeutung
des Ehehindernisses der Verwandtschaft s. Richter-Dove, Kirchenrecht § 275.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0242" n="224"/><fw place="top" type="header">§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.</fw><lb/>
der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmä&#x017F;sigen Beaufsich-<lb/>
tigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht<lb/>
gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten<lb/>
Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen<lb/>
Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte<lb/>
oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungieren-<lb/>
den Familienrates herabdrückte.</p><lb/>
          <p>Die Geschlossenheit der Sippe äu&#x017F;serte sich, zumal seit die<lb/>
Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von<lb/>
Verwandtschaftsehen. Der Einflu&#x017F;s, den die Sippe auf die Ver-<lb/>
ehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das<lb/>
Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu<lb/>
halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen<lb/>
zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen<lb/>
verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem<lb/>
Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den<lb/>
kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den leb-<lb/>
haften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre<lb/>
Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschlie&#x017F;sung zu<lb/>
zersetzen <note place="foot" n="38">E. <hi rendition="#g">Loening,</hi> Kirchenrecht S 546 f. Über die kulturhistorische Bedeutung<lb/>
des Ehehindernisses der Verwandtschaft s. <hi rendition="#g">Richter-Dove,</hi> Kirchenrecht § 275.</note>.</p><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 29. <hi rendition="#g">Die Gliederung der Gesellschaft.</hi></head><lb/>
            <p>
              <bibl><hi rendition="#g">Gaupp,</hi> Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; <hi rendition="#g">derselbe,</hi> Über<lb/>
das Wergelds- u. Bu&#x017F;sensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen<lb/>
Abhandlungen 1853; <hi rendition="#g">derselbe,</hi> Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff.<lb/>
99 ff. <hi rendition="#g">Guérard,</hi> Polyptyque de l&#x2019;abbé Irminon I 203 ff. <hi rendition="#g">August Chabert,</hi><lb/>
Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener<lb/>
Akad. III. IV, 1852. 1853. <hi rendition="#g">Naudet,</hi> De l&#x2019;état des personnes en France sous les<lb/>
rois de la première race, in den Mémoires de l&#x2019;acad. des inscriptions et belles lettres<lb/><hi rendition="#c">VIII 1827. <hi rendition="#g">Waitz,</hi> VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14.</hi></bibl>
            </p><lb/>
            <p>Als Ma&#x017F;sstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit<lb/>
die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten<lb/>
Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermä&#x017F;sigem Ausdruck. Dem<lb/>
höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht blo&#x017F;s für<lb/>
die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten<lb/>
ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten<lb/>
erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der<lb/>
Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0242] § 29. Die Gliederung der Gesellschaft. der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmäſsigen Beaufsich- tigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungieren- den Familienrates herabdrückte. Die Geschlossenheit der Sippe äuſserte sich, zumal seit die Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von Verwandtschaftsehen. Der Einfluſs, den die Sippe auf die Ver- ehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den leb- haften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschlieſsung zu zersetzen 38. § 29. Die Gliederung der Gesellschaft. Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; derselbe, Über das Wergelds- u. Buſsensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen Abhandlungen 1853; derselbe, Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff. 99 ff. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 203 ff. August Chabert, Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener Akad. III. IV, 1852. 1853. Naudet, De l’état des personnes en France sous les rois de la première race, in den Mémoires de l’acad. des inscriptions et belles lettres VIII 1827. Waitz, VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14. Als Maſsstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermäſsigem Ausdruck. Dem höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht bloſs für die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die 38 E. Loening, Kirchenrecht S 546 f. Über die kulturhistorische Bedeutung des Ehehindernisses der Verwandtschaft s. Richter-Dove, Kirchenrecht § 275.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/242
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/242>, abgerufen am 21.11.2024.