Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.

Bild:
<< vorherige Seite
Bewundernswerthe Nahrung
der Pflanzen.
Nicht weit von zwo erhabnen Linden, die, Wolke
wärts, die Aeste streckten

Und welchen, erst entsproßne Blätter, die oft getheilte[n]
Zweige deckten,

Besah ich jüngst derselben Pracht, bewunderte des Wuch[-]
ses Höh,

Betrachtete der breiten Wipfel gebogner Zweig' un[d]
Blätter Menge,

Zumal der von der Wurzel ab so weit gedehnten Fieber[n]
Länge,

Und faßte nicht, wie ihre Nahrung durch so entfernt
Wege geh.

Wie, dacht ich, können ihre Höhen, so weit entferne[t]
von der Erden,

Da sie kein Mensch begiessen kann, getränket und genäh-
ret werden?

Die hohen Wipfel brauchen Nässe; wer tränket, wer
begiesset sie?

Würd' auch der allerklügste Mensch, mit aller Kunst,
mit aller Müh,

So große Körper anzufeuchten, sie zu besprützen, sie
zu tränken,

Ein Mittel zu ersinnen wissen, ja nur die Weise zu er-
denken?

So aber hat ein andrer Geist, ein weit erhabnerer
Verstand,

Ein herrlich Mittel ausgefunden: das, weil es uns
zu sehr bekannt,
Zwar
Bewundernswerthe Nahrung
der Pflanzen.
Nicht weit von zwo erhabnen Linden, die, Wolke
waͤrts, die Aeſte ſtreckten

Und welchen, erſt entſproßne Blaͤtter, die oft getheilte[n]
Zweige deckten,

Beſah ich juͤngſt derſelben Pracht, bewunderte des Wuch[-]
ſes Hoͤh,

Betrachtete der breiten Wipfel gebogner Zweig’ un[d]
Blaͤtter Menge,

Zumal der von der Wurzel ab ſo weit gedehnten Fieber[n]
Laͤnge,

Und faßte nicht, wie ihre Nahrung durch ſo entfernt
Wege geh.

Wie, dacht ich, koͤnnen ihre Hoͤhen, ſo weit entferne[t]
von der Erden,

Da ſie kein Menſch begieſſen kann, getraͤnket und genaͤh-
ret werden?

Die hohen Wipfel brauchen Naͤſſe; wer traͤnket, wer
begieſſet ſie?

Wuͤrd’ auch der allerkluͤgſte Menſch, mit aller Kunſt,
mit aller Muͤh,

So große Koͤrper anzufeuchten, ſie zu beſpruͤtzen, ſie
zu traͤnken,

Ein Mittel zu erſinnen wiſſen, ja nur die Weiſe zu er-
denken?

So aber hat ein andrer Geiſt, ein weit erhabnerer
Verſtand,

Ein herrlich Mittel ausgefunden: das, weil es uns
zu ſehr bekannt,
Zwar
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0072" n="58"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Bewundernswerthe Nahrung<lb/>
der Pflanzen.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">N</hi>icht weit von zwo erhabnen Linden, die, Wolke<lb/><hi rendition="#et">wa&#x0364;rts, die Ae&#x017F;te &#x017F;treckten</hi></l><lb/>
              <l>Und welchen, er&#x017F;t ent&#x017F;proßne Bla&#x0364;tter, die oft getheilte<supplied>n</supplied><lb/><hi rendition="#et">Zweige deckten,</hi></l><lb/>
              <l>Be&#x017F;ah ich ju&#x0364;ng&#x017F;t der&#x017F;elben Pracht, bewunderte des Wuch<supplied>-</supplied><lb/><hi rendition="#et">&#x017F;es Ho&#x0364;h,</hi></l><lb/>
              <l>Betrachtete der breiten Wipfel gebogner Zweig&#x2019; un<supplied>d</supplied><lb/><hi rendition="#et">Bla&#x0364;tter Menge,</hi></l><lb/>
              <l>Zumal der von der Wurzel ab &#x017F;o weit gedehnten Fieber<supplied>n</supplied><lb/><hi rendition="#et">La&#x0364;nge,</hi></l><lb/>
              <l>Und faßte nicht, wie ihre Nahrung durch &#x017F;o entfernt<lb/><hi rendition="#et">Wege geh.</hi></l><lb/>
              <l>Wie, dacht ich, ko&#x0364;nnen ihre Ho&#x0364;hen, &#x017F;o weit entferne<supplied>t</supplied><lb/><hi rendition="#et">von der Erden,</hi></l><lb/>
              <l>Da &#x017F;ie kein Men&#x017F;ch begie&#x017F;&#x017F;en kann, getra&#x0364;nket und gena&#x0364;h-<lb/><hi rendition="#et">ret werden?</hi></l><lb/>
              <l>Die hohen Wipfel brauchen Na&#x0364;&#x017F;&#x017F;e; wer tra&#x0364;nket, wer<lb/><hi rendition="#et">begie&#x017F;&#x017F;et &#x017F;ie?</hi></l><lb/>
              <l>Wu&#x0364;rd&#x2019; auch der allerklu&#x0364;g&#x017F;te Men&#x017F;ch, mit aller Kun&#x017F;t,<lb/><hi rendition="#et">mit aller Mu&#x0364;h,</hi></l><lb/>
              <l>So große Ko&#x0364;rper anzufeuchten, &#x017F;ie zu be&#x017F;pru&#x0364;tzen, &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#et">zu tra&#x0364;nken,</hi></l><lb/>
              <l>Ein Mittel zu er&#x017F;innen wi&#x017F;&#x017F;en, ja nur die Wei&#x017F;e zu er-<lb/><hi rendition="#et">denken?</hi></l><lb/>
              <l>So aber hat ein andrer Gei&#x017F;t, ein weit erhabnerer<lb/><hi rendition="#et">Ver&#x017F;tand,</hi></l><lb/>
              <l>Ein herrlich Mittel ausgefunden: das, weil es uns<lb/><hi rendition="#et">zu &#x017F;ehr bekannt,</hi></l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Zwar</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0072] Bewundernswerthe Nahrung der Pflanzen. Nicht weit von zwo erhabnen Linden, die, Wolke waͤrts, die Aeſte ſtreckten Und welchen, erſt entſproßne Blaͤtter, die oft getheilten Zweige deckten, Beſah ich juͤngſt derſelben Pracht, bewunderte des Wuch- ſes Hoͤh, Betrachtete der breiten Wipfel gebogner Zweig’ und Blaͤtter Menge, Zumal der von der Wurzel ab ſo weit gedehnten Fiebern Laͤnge, Und faßte nicht, wie ihre Nahrung durch ſo entfernt Wege geh. Wie, dacht ich, koͤnnen ihre Hoͤhen, ſo weit entfernet von der Erden, Da ſie kein Menſch begieſſen kann, getraͤnket und genaͤh- ret werden? Die hohen Wipfel brauchen Naͤſſe; wer traͤnket, wer begieſſet ſie? Wuͤrd’ auch der allerkluͤgſte Menſch, mit aller Kunſt, mit aller Muͤh, So große Koͤrper anzufeuchten, ſie zu beſpruͤtzen, ſie zu traͤnken, Ein Mittel zu erſinnen wiſſen, ja nur die Weiſe zu er- denken? So aber hat ein andrer Geiſt, ein weit erhabnerer Verſtand, Ein herrlich Mittel ausgefunden: das, weil es uns zu ſehr bekannt, Zwar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/72
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/72>, abgerufen am 21.12.2024.