Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.Zwo Seelen. Zwo Seelen kamen auf die Welt. Sie waren Kinder, wußten nichts; Durch ihre Sinnen nahmen sie allmählich an Erkennt- niß zu. Jhr Wesen schien, sich zu entwickeln; genährt durch Essen, Trank und Ruh. Die eine ward, durch die Natur, durch alle Herrlichkeit des Lichts, Kurz, durch die Creatur gerührt: genoß derselben, war vergnüget, Und dankte Dem, Der sie, für sie, so weis' und wun- derbar gefüget; Der sie von tausend Gegenwürfen, und für der ganzen Erde Pracht, Durch manches Werkzeug ihrer Sinnen, zu ihrem Be- sten, sinnlich macht. Darauf verließ sie ihren Leib. Die andre thate nichts auf Erden, Als Tag und Nacht sich zu bemühn, viel Geld zu samm- len, reich zu werden; Auf die Natur, auf ihre Schönheit, auf ihres Schöpfers Herrlichkeit, Auf Seine Weisheit, Macht und Liebe, zu denken; hatte sie nicht Zeit. Zuletzt verließ auch sie die Welt. "Bey deinem Schei- den, liebste Seele! "Sprich: welcher wolltest du, von beyden, hier wohl geglichen haben? Wähle! Noth-
Zwo Seelen. Zwo Seelen kamen auf die Welt. Sie waren Kinder, wußten nichts; Durch ihre Sinnen nahmen ſie allmaͤhlich an Erkennt- niß zu. Jhr Weſen ſchien, ſich zu entwickeln; genaͤhrt durch Eſſen, Trank und Ruh. Die eine ward, durch die Natur, durch alle Herrlichkeit des Lichts, Kurz, durch die Creatur geruͤhrt: genoß derſelben, war vergnuͤget, Und dankte Dem, Der ſie, fuͤr ſie, ſo weiſ’ und wun- derbar gefuͤget; Der ſie von tauſend Gegenwuͤrfen, und fuͤr der ganzen Erde Pracht, Durch manches Werkzeug ihrer Sinnen, zu ihrem Be- ſten, ſinnlich macht. Darauf verließ ſie ihren Leib. Die andre thate nichts auf Erden, Als Tag und Nacht ſich zu bemuͤhn, viel Geld zu ſamm- len, reich zu werden; Auf die Natur, auf ihre Schoͤnheit, auf ihres Schoͤpfers Herrlichkeit, Auf Seine Weisheit, Macht und Liebe, zu denken; hatte ſie nicht Zeit. Zuletzt verließ auch ſie die Welt. “Bey deinem Schei- den, liebſte Seele! “Sprich: welcher wollteſt du, von beyden, hier wohl geglichen haben? Waͤhle! Noth-
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Zwo Seelen.
Zwo Seelen kamen auf die Welt. Sie waren Kinder,
wußten nichts;
Durch ihre Sinnen nahmen ſie allmaͤhlich an Erkennt-
niß zu.
Jhr Weſen ſchien, ſich zu entwickeln; genaͤhrt durch
Eſſen, Trank und Ruh.
Die eine ward, durch die Natur, durch alle Herrlichkeit
des Lichts,
Kurz, durch die Creatur geruͤhrt: genoß derſelben, war
vergnuͤget,
Und dankte Dem, Der ſie, fuͤr ſie, ſo weiſ’ und wun-
derbar gefuͤget;
Der ſie von tauſend Gegenwuͤrfen, und fuͤr der ganzen
Erde Pracht,
Durch manches Werkzeug ihrer Sinnen, zu ihrem Be-
ſten, ſinnlich macht.
Darauf verließ ſie ihren Leib. Die andre thate nichts
auf Erden,
Als Tag und Nacht ſich zu bemuͤhn, viel Geld zu ſamm-
len, reich zu werden;
Auf die Natur, auf ihre Schoͤnheit, auf ihres Schoͤpfers
Herrlichkeit,
Auf Seine Weisheit, Macht und Liebe, zu denken; hatte
ſie nicht Zeit.
Zuletzt verließ auch ſie die Welt. “Bey deinem Schei-
den, liebſte Seele!
“Sprich: welcher wollteſt du, von beyden, hier wohl
geglichen haben? Waͤhle!
Noth-
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