Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.

Bild:
<< vorherige Seite
Menschliche Unwissenheit,
im Buche der Natur zu lesen.
Coecutus ging zum Brillen-Macher, um eine Brill
ihm zu erkaufen.

Er nahm verschiedene derselben aus einem aufgethürmten
Haufen,

Setzt' eine nach der andern auf, versucht', an ein ge-
druckt Papier,

Die Güte des geschliffnen Werkzeugs; allein, er ärgerte
sich schier,

Als er kein' einzige gerecht für sich und seine Augen fand.
Bald legt' er die, bald jene, nieder; nahm eine andere
zur Hand,

Bis er sie alle fast probiert. Drauf fing der Brillen-
Macher an:

Mein Freund, ihr könnt vielleicht nicht lesen. Darum,
daß ich nicht lesen kann,

Sprach jener, kauf' ich eine Brille. Denn, hätt' ich
ein so gut Gesicht;

Gebraucht' ich eurer Brillen nicht.
Wie lächerlich nun dieser Schluß;
So gab er mir zum ernsten Denken doch Anlaß; wel-
ches ich denn hier,

Geliebter Leser! gleichfals dir,
Wiewohl betrübt, entdecken muß.
"Wir alle sind Coecutus gleich. Wer hat, im Buche
der Natur

"Zu lesen, jemals wohl gelernt? Man hat ja kaum
einmal die Spuhr
"Der
Menſchliche Unwiſſenheit,
im Buche der Natur zu leſen.
Cœcutus ging zum Brillen-Macher, um eine Brill
ihm zu erkaufen.

Er nahm verſchiedene derſelben aus einem aufgethuͤrmten
Haufen,

Setzt’ eine nach der andern auf, verſucht’, an ein ge-
druckt Papier,

Die Guͤte des geſchliffnen Werkzeugs; allein, er aͤrgerte
ſich ſchier,

Als er kein’ einzige gerecht fuͤr ſich und ſeine Augen fand.
Bald legt’ er die, bald jene, nieder; nahm eine andere
zur Hand,

Bis er ſie alle faſt probiert. Drauf fing der Brillen-
Macher an:

Mein Freund, ihr koͤnnt vielleicht nicht leſen. Darum,
daß ich nicht leſen kann,

Sprach jener, kauf’ ich eine Brille. Denn, haͤtt’ ich
ein ſo gut Geſicht;

Gebraucht’ ich eurer Brillen nicht.
Wie laͤcherlich nun dieſer Schluß;
So gab er mir zum ernſten Denken doch Anlaß; wel-
ches ich denn hier,

Geliebter Leſer! gleichfals dir,
Wiewohl betruͤbt, entdecken muß.
“Wir alle ſind Cœcutus gleich. Wer hat, im Buche
der Natur

“Zu leſen, jemals wohl gelernt? Man hat ja kaum
einmal die Spuhr
“Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0474" n="460"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Men&#x017F;chliche Unwi&#x017F;&#x017F;enheit,<lb/>
im Buche der Natur zu le&#x017F;en.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <lg n="1">
                <l><hi rendition="#aq"><hi rendition="#in">C</hi>&#x0153;cutus</hi> ging zum Brillen-Macher, um eine Brill<lb/><hi rendition="#et">ihm zu erkaufen.</hi></l><lb/>
                <l>Er nahm ver&#x017F;chiedene der&#x017F;elben aus einem aufgethu&#x0364;rmten<lb/><hi rendition="#et">Haufen,</hi></l><lb/>
                <l>Setzt&#x2019; eine nach der andern auf, ver&#x017F;ucht&#x2019;, an ein ge-<lb/><hi rendition="#et">druckt Papier,</hi></l><lb/>
                <l>Die Gu&#x0364;te des ge&#x017F;chliffnen Werkzeugs; allein, er a&#x0364;rgerte<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;ich &#x017F;chier,</hi></l><lb/>
                <l>Als er kein&#x2019; einzige gerecht fu&#x0364;r &#x017F;ich und &#x017F;eine Augen fand.</l><lb/>
                <l>Bald legt&#x2019; er die, bald jene, nieder; nahm eine andere<lb/><hi rendition="#et">zur Hand,</hi></l><lb/>
                <l>Bis er &#x017F;ie alle fa&#x017F;t probiert. Drauf fing der Brillen-<lb/><hi rendition="#et">Macher an:</hi></l><lb/>
                <l>Mein Freund, ihr ko&#x0364;nnt vielleicht nicht le&#x017F;en. Darum,<lb/><hi rendition="#et">daß ich nicht le&#x017F;en kann,</hi></l><lb/>
                <l>Sprach jener, kauf&#x2019; ich eine Brille. Denn, ha&#x0364;tt&#x2019; ich<lb/><hi rendition="#et">ein &#x017F;o gut Ge&#x017F;icht;</hi></l><lb/>
                <l>Gebraucht&#x2019; ich eurer Brillen nicht.</l><lb/>
                <l>Wie la&#x0364;cherlich nun die&#x017F;er Schluß;</l><lb/>
                <l>So gab er mir zum ern&#x017F;ten Denken doch Anlaß; wel-<lb/><hi rendition="#et">ches ich denn hier,</hi></l><lb/>
                <l>Geliebter Le&#x017F;er! gleichfals dir,</l><lb/>
                <l>Wiewohl betru&#x0364;bt, entdecken muß.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="2">
                <l>&#x201C;Wir alle &#x017F;ind <hi rendition="#aq">C&#x0153;cutus</hi> gleich. Wer hat, im Buche<lb/><hi rendition="#et">der Natur</hi></l><lb/>
                <l>&#x201C;Zu le&#x017F;en, jemals wohl gelernt? Man hat ja kaum<lb/><hi rendition="#et">einmal die Spuhr</hi></l>
              </lg><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">&#x201C;Der</fw><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[460/0474] Menſchliche Unwiſſenheit, im Buche der Natur zu leſen. Cœcutus ging zum Brillen-Macher, um eine Brill ihm zu erkaufen. Er nahm verſchiedene derſelben aus einem aufgethuͤrmten Haufen, Setzt’ eine nach der andern auf, verſucht’, an ein ge- druckt Papier, Die Guͤte des geſchliffnen Werkzeugs; allein, er aͤrgerte ſich ſchier, Als er kein’ einzige gerecht fuͤr ſich und ſeine Augen fand. Bald legt’ er die, bald jene, nieder; nahm eine andere zur Hand, Bis er ſie alle faſt probiert. Drauf fing der Brillen- Macher an: Mein Freund, ihr koͤnnt vielleicht nicht leſen. Darum, daß ich nicht leſen kann, Sprach jener, kauf’ ich eine Brille. Denn, haͤtt’ ich ein ſo gut Geſicht; Gebraucht’ ich eurer Brillen nicht. Wie laͤcherlich nun dieſer Schluß; So gab er mir zum ernſten Denken doch Anlaß; wel- ches ich denn hier, Geliebter Leſer! gleichfals dir, Wiewohl betruͤbt, entdecken muß. “Wir alle ſind Cœcutus gleich. Wer hat, im Buche der Natur “Zu leſen, jemals wohl gelernt? Man hat ja kaum einmal die Spuhr “Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/474
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/474>, abgerufen am 21.12.2024.