Jm vier und vierzigsten, nach siebzehn hundert Jahr, Ward mir ein Linden-Zweig, der schon beblättert war, Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch stutzte für Ver- gnügen; Jch glaubt', es möchte mich mein schnelles Auge triegen. Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand, Da ich ihn wirklich grün, und voller Laub, befand.
Kann dieses möglich seyn? mein Gott! rief ich, für Freuden; Kann auch, im Winter, sich ein Zweig mit Blättern kleiden?
Es überlief mein Blick die Farben, Form und Schein. Unmöglich kann ein Laub, im Frühling, schöner seyn. Der Zweig war weißlicht grün, rund, starr und lieblich glatt. Ein stärker grüner Glanz deckt jedes zarte Blatt, Das wie ein Herz formiert, sehr zart gewebt und platt; Das, um den äussern Rand, gekerbte Spitzen hatt', Und worinn man, mit Lust, der Adern Meng' erblicket, Die das durchsichtge Laub ernähret, stützt und schmücket.
Wie nun mein Aug' hierauf, auf jedes Blattes Stiel, Und ihre zierlich rund- und schlanke Länge fiel; Erstaunt' ich. Denn es ward mein schneller Blick gewahr, Wie, an des Stieles Fuß, auch schon fürs künftge Jahr,
Ein
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Der ſchon in Weihnachten gruͤnende Linden-Zweig.
Jm vier und vierzigſten, nach ſiebzehn hundert Jahr, Ward mir ein Linden-Zweig, der ſchon beblaͤttert war, Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch ſtutzte fuͤr Ver- gnuͤgen; Jch glaubt’, es moͤchte mich mein ſchnelles Auge triegen. Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand, Da ich ihn wirklich gruͤn, und voller Laub, befand.
Kann dieſes moͤglich ſeyn? mein Gott! rief ich, fuͤr Freuden; Kann auch, im Winter, ſich ein Zweig mit Blaͤttern kleiden?
Es uͤberlief mein Blick die Farben, Form und Schein. Unmoͤglich kann ein Laub, im Fruͤhling, ſchoͤner ſeyn. Der Zweig war weißlicht gruͤn, rund, ſtarr und lieblich glatt. Ein ſtaͤrker gruͤner Glanz deckt jedes zarte Blatt, Das wie ein Herz formiert, ſehr zart gewebt und platt; Das, um den aͤuſſern Rand, gekerbte Spitzen hatt’, Und worinn man, mit Luſt, der Adern Meng’ erblicket, Die das durchſichtge Laub ernaͤhret, ſtuͤtzt und ſchmuͤcket.
Wie nun mein Aug’ hierauf, auf jedes Blattes Stiel, Und ihre zierlich rund- und ſchlanke Laͤnge fiel; Erſtaunt’ ich. Denn es ward mein ſchneller Blick gewahr, Wie, an des Stieles Fuß, auch ſchon fuͤrs kuͤnftge Jahr,
Ein
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Der ſchon in Weihnachten gruͤnende
Linden-Zweig.
Jm vier und vierzigſten, nach ſiebzehn hundert Jahr,
Ward mir ein Linden-Zweig, der ſchon beblaͤttert
war,
Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch ſtutzte fuͤr Ver-
gnuͤgen;
Jch glaubt’, es moͤchte mich mein ſchnelles Auge triegen.
Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand,
Da ich ihn wirklich gruͤn, und voller Laub, befand.
Kann dieſes moͤglich ſeyn? mein Gott! rief ich, fuͤr
Freuden;
Kann auch, im Winter, ſich ein Zweig mit Blaͤttern
kleiden?
Es uͤberlief mein Blick die Farben, Form und Schein.
Unmoͤglich kann ein Laub, im Fruͤhling, ſchoͤner ſeyn.
Der Zweig war weißlicht gruͤn, rund, ſtarr und lieblich
glatt.
Ein ſtaͤrker gruͤner Glanz deckt jedes zarte Blatt,
Das wie ein Herz formiert, ſehr zart gewebt und platt;
Das, um den aͤuſſern Rand, gekerbte Spitzen hatt’,
Und worinn man, mit Luſt, der Adern Meng’ erblicket,
Die das durchſichtge Laub ernaͤhret, ſtuͤtzt und ſchmuͤcket.
Wie nun mein Aug’ hierauf, auf jedes Blattes Stiel,
Und ihre zierlich rund- und ſchlanke Laͤnge fiel;
Erſtaunt’ ich. Denn es ward mein ſchneller Blick gewahr,
Wie, an des Stieles Fuß, auch ſchon fuͤrs kuͤnftge Jahr,
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/295>, abgerufen am 03.03.2025.
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