Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.

Bild:
<< vorherige Seite
Der schon in Weihnachten grünende
Linden-Zweig.
Jm vier und vierzigsten, nach siebzehn hundert Jahr,
Ward mir ein Linden-Zweig, der schon beblättert
war,

Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch stutzte für Ver-
gnügen;

Jch glaubt', es möchte mich mein schnelles Auge triegen.
Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand,
Da ich ihn wirklich grün, und voller Laub, befand.
Kann dieses möglich seyn? mein Gott! rief ich, für
Freuden;

Kann auch, im Winter, sich ein Zweig mit Blättern
kleiden?
Es überlief mein Blick die Farben, Form und Schein.
Unmöglich kann ein Laub, im Frühling, schöner seyn.
Der Zweig war weißlicht grün, rund, starr und lieblich
glatt.

Ein stärker grüner Glanz deckt jedes zarte Blatt,
Das wie ein Herz formiert, sehr zart gewebt und platt;
Das, um den äussern Rand, gekerbte Spitzen hatt',
Und worinn man, mit Lust, der Adern Meng' erblicket,
Die das durchsichtge Laub ernähret, stützt und schmücket.
Wie nun mein Aug' hierauf, auf jedes Blattes Stiel,
Und ihre zierlich rund- und schlanke Länge fiel;
Erstaunt' ich. Denn es ward mein schneller Blick gewahr,
Wie, an des Stieles Fuß, auch schon fürs künftge Jahr,
Ein
S 5
Der ſchon in Weihnachten gruͤnende
Linden-Zweig.
Jm vier und vierzigſten, nach ſiebzehn hundert Jahr,
Ward mir ein Linden-Zweig, der ſchon beblaͤttert
war,

Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch ſtutzte fuͤr Ver-
gnuͤgen;

Jch glaubt’, es moͤchte mich mein ſchnelles Auge triegen.
Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand,
Da ich ihn wirklich gruͤn, und voller Laub, befand.
Kann dieſes moͤglich ſeyn? mein Gott! rief ich, fuͤr
Freuden;

Kann auch, im Winter, ſich ein Zweig mit Blaͤttern
kleiden?
Es uͤberlief mein Blick die Farben, Form und Schein.
Unmoͤglich kann ein Laub, im Fruͤhling, ſchoͤner ſeyn.
Der Zweig war weißlicht gruͤn, rund, ſtarr und lieblich
glatt.

Ein ſtaͤrker gruͤner Glanz deckt jedes zarte Blatt,
Das wie ein Herz formiert, ſehr zart gewebt und platt;
Das, um den aͤuſſern Rand, gekerbte Spitzen hatt’,
Und worinn man, mit Luſt, der Adern Meng’ erblicket,
Die das durchſichtge Laub ernaͤhret, ſtuͤtzt und ſchmuͤcket.
Wie nun mein Aug’ hierauf, auf jedes Blattes Stiel,
Und ihre zierlich rund- und ſchlanke Laͤnge fiel;
Erſtaunt’ ich. Denn es ward mein ſchneller Blick gewahr,
Wie, an des Stieles Fuß, auch ſchon fuͤrs kuͤnftge Jahr,
Ein
S 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0295" n="281"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der &#x017F;chon in Weihnachten gru&#x0364;nende<lb/>
Linden-Zweig.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <lg n="1">
                <l><hi rendition="#in">J</hi>m vier und vierzig&#x017F;ten, nach &#x017F;iebzehn hundert Jahr,</l><lb/>
                <l>Ward mir ein Linden-Zweig, der &#x017F;chon bebla&#x0364;ttert<lb/><hi rendition="#et">war,</hi></l><lb/>
                <l>Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch &#x017F;tutzte fu&#x0364;r Ver-<lb/><hi rendition="#et">gnu&#x0364;gen;</hi></l><lb/>
                <l>Jch glaubt&#x2019;, es mo&#x0364;chte mich mein &#x017F;chnelles Auge triegen.</l><lb/>
                <l>Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand,</l><lb/>
                <l>Da ich ihn wirklich gru&#x0364;n, und voller Laub, befand.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="2">
                <l>Kann die&#x017F;es mo&#x0364;glich &#x017F;eyn? mein Gott! rief ich, fu&#x0364;r<lb/><hi rendition="#et">Freuden;</hi></l><lb/>
                <l>Kann auch, im Winter, &#x017F;ich ein Zweig mit Bla&#x0364;ttern<lb/><hi rendition="#et">kleiden?</hi></l>
              </lg><lb/>
              <lg n="3">
                <l>Es u&#x0364;berlief mein Blick die Farben, Form und Schein.</l><lb/>
                <l>Unmo&#x0364;glich kann ein Laub, im Fru&#x0364;hling, &#x017F;cho&#x0364;ner &#x017F;eyn.</l><lb/>
                <l>Der Zweig war weißlicht gru&#x0364;n, rund, &#x017F;tarr und lieblich<lb/><hi rendition="#et">glatt.</hi></l><lb/>
                <l>Ein &#x017F;ta&#x0364;rker gru&#x0364;ner Glanz deckt jedes zarte Blatt,</l><lb/>
                <l>Das wie ein Herz formiert, &#x017F;ehr zart gewebt und platt;</l><lb/>
                <l>Das, um den a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Rand, gekerbte Spitzen hatt&#x2019;,</l><lb/>
                <l>Und worinn man, mit Lu&#x017F;t, der Adern Meng&#x2019; erblicket,</l><lb/>
                <l>Die das durch&#x017F;ichtge Laub erna&#x0364;hret, &#x017F;tu&#x0364;tzt und &#x017F;chmu&#x0364;cket.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="4">
                <l>Wie nun mein Aug&#x2019; hierauf, auf jedes Blattes Stiel,</l><lb/>
                <l>Und ihre zierlich rund- und &#x017F;chlanke La&#x0364;nge fiel;</l><lb/>
                <l>Er&#x017F;taunt&#x2019; ich. Denn es ward mein &#x017F;chneller Blick gewahr,</l><lb/>
                <l>Wie, an des Stieles Fuß, auch &#x017F;chon fu&#x0364;rs ku&#x0364;nftge Jahr,</l>
              </lg><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">S 5</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0295] Der ſchon in Weihnachten gruͤnende Linden-Zweig. Jm vier und vierzigſten, nach ſiebzehn hundert Jahr, Ward mir ein Linden-Zweig, der ſchon beblaͤttert war, Zur Weihnacht-Zeit, gebracht. Jch ſtutzte fuͤr Ver- gnuͤgen; Jch glaubt’, es moͤchte mich mein ſchnelles Auge triegen. Drum nahm ich ihn, in Eil, begierig, in die Hand, Da ich ihn wirklich gruͤn, und voller Laub, befand. Kann dieſes moͤglich ſeyn? mein Gott! rief ich, fuͤr Freuden; Kann auch, im Winter, ſich ein Zweig mit Blaͤttern kleiden? Es uͤberlief mein Blick die Farben, Form und Schein. Unmoͤglich kann ein Laub, im Fruͤhling, ſchoͤner ſeyn. Der Zweig war weißlicht gruͤn, rund, ſtarr und lieblich glatt. Ein ſtaͤrker gruͤner Glanz deckt jedes zarte Blatt, Das wie ein Herz formiert, ſehr zart gewebt und platt; Das, um den aͤuſſern Rand, gekerbte Spitzen hatt’, Und worinn man, mit Luſt, der Adern Meng’ erblicket, Die das durchſichtge Laub ernaͤhret, ſtuͤtzt und ſchmuͤcket. Wie nun mein Aug’ hierauf, auf jedes Blattes Stiel, Und ihre zierlich rund- und ſchlanke Laͤnge fiel; Erſtaunt’ ich. Denn es ward mein ſchneller Blick gewahr, Wie, an des Stieles Fuß, auch ſchon fuͤrs kuͤnftge Jahr, Ein S 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/295
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/295>, abgerufen am 21.12.2024.