Jn des offnen Maules Stellung sieht man deutlich, daß er fühle, Wie die feucht und frische Kost ihn mit Anmuth nähr und kühle. Doch sein Auge zeigt zugleich, daß sein prächtiges Geweih, So der Wiederschein ihm zeiget, seiner Blicke Vorwurf sey. Wer bewundert, der dieß siehet, nicht des Künstlers kluge Hand? Jeder Punkt zeigt einen Geist, jede Linie Verstand. Aber hört! erkennt dabey, wenn euch sein Gemälde rühret, Daß er uns, durch die Copie, zum weit schönern Urbild führet.
No. 9.
Wie so wild ist dieser Wald! sehet, wie sich Licht und Schatten, Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten! Sind die Aeste, die so knorrig, nicht fast ungeheuer schön? Seht die krumm - verwachsnen Wurzeln uns fast recht entgegen stehn.
Aber, wie erblick ich hier, in so kläglicher Gestalt, Einen sonst so muthgen Hirsch! Der verzehrnden Brunst Gewalt Schauet man in seinen Augen. Ein verfinstert schwaches Licht Glimmt in seinem trüben Blick; seine Zunge starrt, er lechzet; Und mein Auge höret fast, wie er schnaufet, keicht und ächzet. Ja, mich deucht, als wenn er gleichsam, durch sein Keichen, zu mir spricht, Aus dem schlammigten Morast: Schau, in mir, die Wut der Triebe, Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild misbrauchter Liebe.
No. 10.
Die Hirſche.
Jn des offnen Maules Stellung ſieht man deutlich, daß er fuͤhle, Wie die feucht und friſche Koſt ihn mit Anmuth naͤhr und kuͤhle. Doch ſein Auge zeigt zugleich, daß ſein praͤchtiges Geweih, So der Wiederſchein ihm zeiget, ſeiner Blicke Vorwurf ſey. Wer bewundert, der dieß ſiehet, nicht des Kuͤnſtlers kluge Hand? Jeder Punkt zeigt einen Geiſt, jede Linie Verſtand. Aber hoͤrt! erkennt dabey, wenn euch ſein Gemaͤlde ruͤhret, Daß er uns, durch die Copie, zum weit ſchoͤnern Urbild fuͤhret.
No. 9.
Wie ſo wild iſt dieſer Wald! ſehet, wie ſich Licht und Schatten, Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten! Sind die Aeſte, die ſo knorrig, nicht faſt ungeheuer ſchoͤn? Seht die krumm - verwachſnen Wurzeln uns faſt recht entgegen ſtehn.
Aber, wie erblick ich hier, in ſo klaͤglicher Geſtalt, Einen ſonſt ſo muthgen Hirſch! Der verzehrnden Brunſt Gewalt Schauet man in ſeinen Augen. Ein verfinſtert ſchwaches Licht Glimmt in ſeinem truͤben Blick; ſeine Zunge ſtarrt, er lechzet; Und mein Auge hoͤret faſt, wie er ſchnaufet, keicht und aͤchzet. Ja, mich deucht, als wenn er gleichſam, durch ſein Keichen, zu mir ſpricht, Aus dem ſchlammigten Moraſt: Schau, in mir, die Wut der Triebe, Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild misbrauchter Liebe.
No. 10.
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Die Hirſche.
Jn des offnen Maules Stellung ſieht man deutlich, daß er
fuͤhle,
Wie die feucht und friſche Koſt ihn mit Anmuth naͤhr und
kuͤhle.
Doch ſein Auge zeigt zugleich, daß ſein praͤchtiges Geweih,
So der Wiederſchein ihm zeiget, ſeiner Blicke Vorwurf ſey.
Wer bewundert, der dieß ſiehet, nicht des Kuͤnſtlers kluge
Hand?
Jeder Punkt zeigt einen Geiſt, jede Linie Verſtand.
Aber hoͤrt! erkennt dabey, wenn euch ſein Gemaͤlde ruͤhret,
Daß er uns, durch die Copie, zum weit ſchoͤnern Urbild fuͤhret.
No. 9.
Wie ſo wild iſt dieſer Wald! ſehet, wie ſich Licht und Schatten,
Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten!
Sind die Aeſte, die ſo knorrig, nicht faſt ungeheuer ſchoͤn?
Seht die krumm - verwachſnen Wurzeln uns faſt recht entgegen
ſtehn.
Aber, wie erblick ich hier, in ſo klaͤglicher Geſtalt,
Einen ſonſt ſo muthgen Hirſch! Der verzehrnden Brunſt Gewalt
Schauet man in ſeinen Augen. Ein verfinſtert ſchwaches Licht
Glimmt in ſeinem truͤben Blick; ſeine Zunge ſtarrt, er lechzet;
Und mein Auge hoͤret faſt, wie er ſchnaufet, keicht und aͤchzet.
Ja, mich deucht, als wenn er gleichſam, durch ſein Keichen, zu
mir ſpricht,
Aus dem ſchlammigten Moraſt: Schau, in mir, die
Wut der Triebe,
Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild
misbrauchter Liebe.
No. 10.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/246>, abgerufen am 03.03.2025.
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