Es war ein angeschweister Hirsch: Er ist vorbey und fort Doch nein; Wie! wird er in der Flucht zu Stein? Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß ist nun keine Zauberey; Doch ist es eine schwarze Kunst. Damit hier lange sichtbar sey, Was sonst die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an diesem armen Thier, Entsetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wüten, Todespein und Grauen, Nicht in den Augen nur allein, in allen seinen Gliedern, schauen. Die Muskeln raffen sich zusammen; die strammen Nerven reissen schier. Hier seh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menschen schlauer Geist, Auch in den allerdicksten Wäldern, die Herrschaft über Thie- re weist: Doch seh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine Blicke, Um mich zu trösten, in den Wald, in die bebüschte Ferne schicke. Jch senke mich, mit stiller Lust, in das verwachsene Gefilde; Und wenn ich, in dem schönen Wald, mich satt und doch nicht satt gesehn, Weil man stets neue Schönheit spüret: So ruf ich: Jeder muß gestehn, Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, sich selbsten bilde.
No. 4.
Ob in diesem Kupferstück ich zuerst das Pflanzen-Reich, Oder erst das Thier-Reich sehn, oder alle zwey zugleich Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter Blick.
Sucht
Die Hirſche.
Es war ein angeſchweiſter Hirſch: Er iſt vorbey und fort Doch nein; Wie! wird er in der Flucht zu Stein? Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß iſt nun keine Zauberey; Doch iſt es eine ſchwarze Kunſt. Damit hier lange ſichtbar ſey, Was ſonſt die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an dieſem armen Thier, Entſetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wuͤten, Todespein und Grauen, Nicht in den Augen nur allein, in allen ſeinen Gliedern, ſchauen. Die Muskeln raffen ſich zuſammen; die ſtrammen Nerven reiſſen ſchier. Hier ſeh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menſchen ſchlauer Geiſt, Auch in den allerdickſten Waͤldern, die Herrſchaft uͤber Thie- re weiſt: Doch ſeh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine Blicke, Um mich zu troͤſten, in den Wald, in die bebuͤſchte Ferne ſchicke. Jch ſenke mich, mit ſtiller Luſt, in das verwachſene Gefilde; Und wenn ich, in dem ſchoͤnen Wald, mich ſatt und doch nicht ſatt geſehn, Weil man ſtets neue Schoͤnheit ſpuͤret: So ruf ich: Jeder muß geſtehn, Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, ſich ſelbſten bilde.
No. 4.
Ob in dieſem Kupferſtuͤck ich zuerſt das Pflanzen-Reich, Oder erſt das Thier-Reich ſehn, oder alle zwey zugleich Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter Blick.
Sucht
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Die Hirſche.
Es war ein angeſchweiſter Hirſch: Er iſt vorbey und fort
Doch nein;
Wie! wird er in der Flucht zu Stein?
Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß iſt nun keine
Zauberey;
Doch iſt es eine ſchwarze Kunſt. Damit hier lange ſichtbar ſey,
Was ſonſt die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an dieſem
armen Thier,
Entſetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wuͤten,
Todespein und Grauen,
Nicht in den Augen nur allein, in allen ſeinen Gliedern, ſchauen.
Die Muskeln raffen ſich zuſammen; die ſtrammen Nerven
reiſſen ſchier.
Hier ſeh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menſchen
ſchlauer Geiſt,
Auch in den allerdickſten Waͤldern, die Herrſchaft uͤber Thie-
re weiſt:
Doch ſeh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine
Blicke,
Um mich zu troͤſten, in den Wald, in die bebuͤſchte Ferne ſchicke.
Jch ſenke mich, mit ſtiller Luſt, in das verwachſene Gefilde;
Und wenn ich, in dem ſchoͤnen Wald, mich ſatt und doch nicht
ſatt geſehn,
Weil man ſtets neue Schoͤnheit ſpuͤret: So ruf ich: Jeder
muß geſtehn,
Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, ſich ſelbſten bilde.
No. 4.
Ob in dieſem Kupferſtuͤck ich zuerſt das Pflanzen-Reich,
Oder erſt das Thier-Reich ſehn, oder alle zwey zugleich
Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter
Blick.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/242>, abgerufen am 03.03.2025.
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