Es hat eine Zeit gegeben auf der Erde, in welcher die Kriechthiere das große Wort führten. Wahre Ungeheuer lebten vorzugsweise im Meere und später in den Sümpfen und Flüssen; sie sind untergegangen und vernichtet worden bis auf wenige, von denen wir die versteinerten Knochen gefunden haben. Jene Ungeheuer vereinigten die verschiedensten Gestalten in sich, Merkmale von Walfisch und Vogel, Krokodil und Schlange, und erscheinen uns deshalb heutigentages auch trotz der scharfsinnigsten Folgerungen, welche man gewagt hat, als räthselhafte Geschöpfe: eine Echse in Walfischgestalt ist der Jchthyosaurus, eine Echse mit Flossen und Schlangenhals der Plesiosaurus, eine Echse mit Flughäuten der Pterodaktylus. Von einzelnen dieser Thiere sind uns so vollständige Gerippe überkommen, daß wir ihre Verwandtschaft mit den heutzutage noch lebenden Thieren nach- weisen können; von anderen haben wir so wenige Reste gefunden, daß wir eben nur vermuthen dürfen, sie seien Kriechthiere gewesen und haben ebenfalls der Reihe, mit welcher wir uns nunmehr beschäftigen werden, angehört.
Unsere heutigen Echsen stehen den vorweltlichen an Manchfaltigkeit der Gestalt wahrscheinlich ebenso weit nach als an Größe. Die heute noch lebenden Riesen dieser Reihe müssen klein genannt werden, wenn wir sie mit den ausgestorbenen Wasserechsen vergleichen, und die heutigen Drachen sind nur dürftige Abbilder der Flugechsen, denen der Pterodaktylus angehörte.
Die niedliche Eidechse, welche wohl jedem meiner Leser aus eigener Anschauung bekannt sein dürfte, kann als Urbild aller Echsen gelten, obgleich diese Grundgestalt, wie ich mich ausdrücken möchte, vielfach abändert, theils wegen Mißverhältniß der einzelnen Glieder unter einander, theils dadurch, daß sonderbare Stacheln und Hautkämme, Lappen und Falten vorkommen oder daß einzelne Glieder verkümmern und die betreffenden Thiere dann den Schlangen ähnlich werden. Jm allgemeinen kennzeichnen die Echsen ein langgestreckter, mehr oder weniger walziger Leib, welcher mit schuppiger Haut oder mit knöchernen Schildern bekleidet ist; kurzer, vorn zugespitzter, vom Halse wenig abgesetzter Kopf, vier niedere Beine und wohlentwickelte Sinneswerkzeuge. Die Füße sind bei allen denen, welche Beine besitzen, wohl entwickelt und meist fünfzehig gegliedert, die Zehen außerordentlich verschieden gestaltet: es können aber auch nur zwei von den Beinen vorhanden sein oder diese gänzlich fehlen. Der Schwanz ändert in minder auffallender Weise ab als die Füße, zeigt aber doch ebenfalls sehr verschiedene Bildungen. Das Paukenfell liegt oberflächlich; das Auge ist in der Regel mit Lidern versehen; die äußere Bedeckung und die Färbung läßt eine allgemeine Schilderung kaum zu. Auch der innere Bau des Leibes schwankt so erheblich, daß ich vorziehe, die wichtigsten Eigenthümlich-
Zweite Reihe. Echſen (Sauria).
Es hat eine Zeit gegeben auf der Erde, in welcher die Kriechthiere das große Wort führten. Wahre Ungeheuer lebten vorzugsweiſe im Meere und ſpäter in den Sümpfen und Flüſſen; ſie ſind untergegangen und vernichtet worden bis auf wenige, von denen wir die verſteinerten Knochen gefunden haben. Jene Ungeheuer vereinigten die verſchiedenſten Geſtalten in ſich, Merkmale von Walfiſch und Vogel, Krokodil und Schlange, und erſcheinen uns deshalb heutigentages auch trotz der ſcharfſinnigſten Folgerungen, welche man gewagt hat, als räthſelhafte Geſchöpfe: eine Echſe in Walfiſchgeſtalt iſt der Jchthyoſaurus, eine Echſe mit Floſſen und Schlangenhals der Pleſioſaurus, eine Echſe mit Flughäuten der Pterodaktylus. Von einzelnen dieſer Thiere ſind uns ſo vollſtändige Gerippe überkommen, daß wir ihre Verwandtſchaft mit den heutzutage noch lebenden Thieren nach- weiſen können; von anderen haben wir ſo wenige Reſte gefunden, daß wir eben nur vermuthen dürfen, ſie ſeien Kriechthiere geweſen und haben ebenfalls der Reihe, mit welcher wir uns nunmehr beſchäftigen werden, angehört.
Unſere heutigen Echſen ſtehen den vorweltlichen an Manchfaltigkeit der Geſtalt wahrſcheinlich ebenſo weit nach als an Größe. Die heute noch lebenden Rieſen dieſer Reihe müſſen klein genannt werden, wenn wir ſie mit den ausgeſtorbenen Waſſerechſen vergleichen, und die heutigen Drachen ſind nur dürftige Abbilder der Flugechſen, denen der Pterodaktylus angehörte.
Die niedliche Eidechſe, welche wohl jedem meiner Leſer aus eigener Anſchauung bekannt ſein dürfte, kann als Urbild aller Echſen gelten, obgleich dieſe Grundgeſtalt, wie ich mich ausdrücken möchte, vielfach abändert, theils wegen Mißverhältniß der einzelnen Glieder unter einander, theils dadurch, daß ſonderbare Stacheln und Hautkämme, Lappen und Falten vorkommen oder daß einzelne Glieder verkümmern und die betreffenden Thiere dann den Schlangen ähnlich werden. Jm allgemeinen kennzeichnen die Echſen ein langgeſtreckter, mehr oder weniger walziger Leib, welcher mit ſchuppiger Haut oder mit knöchernen Schildern bekleidet iſt; kurzer, vorn zugeſpitzter, vom Halſe wenig abgeſetzter Kopf, vier niedere Beine und wohlentwickelte Sinneswerkzeuge. Die Füße ſind bei allen denen, welche Beine beſitzen, wohl entwickelt und meiſt fünfzehig gegliedert, die Zehen außerordentlich verſchieden geſtaltet: es können aber auch nur zwei von den Beinen vorhanden ſein oder dieſe gänzlich fehlen. Der Schwanz ändert in minder auffallender Weiſe ab als die Füße, zeigt aber doch ebenfalls ſehr verſchiedene Bildungen. Das Paukenfell liegt oberflächlich; das Auge iſt in der Regel mit Lidern verſehen; die äußere Bedeckung und die Färbung läßt eine allgemeine Schilderung kaum zu. Auch der innere Bau des Leibes ſchwankt ſo erheblich, daß ich vorziehe, die wichtigſten Eigenthümlich-
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Zweite Reihe.
Echſen (Sauria).
Es hat eine Zeit gegeben auf der Erde, in welcher die Kriechthiere das große Wort führten.
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ſie ſind untergegangen und vernichtet worden bis auf wenige, von denen wir die verſteinerten Knochen
gefunden haben. Jene Ungeheuer vereinigten die verſchiedenſten Geſtalten in ſich, Merkmale von
Walfiſch und Vogel, Krokodil und Schlange, und erſcheinen uns deshalb heutigentages auch trotz der
ſcharfſinnigſten Folgerungen, welche man gewagt hat, als räthſelhafte Geſchöpfe: eine Echſe in
Walfiſchgeſtalt iſt der Jchthyoſaurus, eine Echſe mit Floſſen und Schlangenhals der Pleſioſaurus,
eine Echſe mit Flughäuten der Pterodaktylus. Von einzelnen dieſer Thiere ſind uns ſo vollſtändige
Gerippe überkommen, daß wir ihre Verwandtſchaft mit den heutzutage noch lebenden Thieren nach-
weiſen können; von anderen haben wir ſo wenige Reſte gefunden, daß wir eben nur vermuthen
dürfen, ſie ſeien Kriechthiere geweſen und haben ebenfalls der Reihe, mit welcher wir uns nunmehr
beſchäftigen werden, angehört.
Unſere heutigen Echſen ſtehen den vorweltlichen an Manchfaltigkeit der Geſtalt wahrſcheinlich
ebenſo weit nach als an Größe. Die heute noch lebenden Rieſen dieſer Reihe müſſen klein genannt
werden, wenn wir ſie mit den ausgeſtorbenen Waſſerechſen vergleichen, und die heutigen Drachen ſind
nur dürftige Abbilder der Flugechſen, denen der Pterodaktylus angehörte.
Die niedliche Eidechſe, welche wohl jedem meiner Leſer aus eigener Anſchauung bekannt ſein
dürfte, kann als Urbild aller Echſen gelten, obgleich dieſe Grundgeſtalt, wie ich mich ausdrücken
möchte, vielfach abändert, theils wegen Mißverhältniß der einzelnen Glieder unter einander, theils
dadurch, daß ſonderbare Stacheln und Hautkämme, Lappen und Falten vorkommen oder daß einzelne
Glieder verkümmern und die betreffenden Thiere dann den Schlangen ähnlich werden. Jm allgemeinen
kennzeichnen die Echſen ein langgeſtreckter, mehr oder weniger walziger Leib, welcher mit ſchuppiger Haut
oder mit knöchernen Schildern bekleidet iſt; kurzer, vorn zugeſpitzter, vom Halſe wenig abgeſetzter
Kopf, vier niedere Beine und wohlentwickelte Sinneswerkzeuge. Die Füße ſind bei allen denen,
welche Beine beſitzen, wohl entwickelt und meiſt fünfzehig gegliedert, die Zehen außerordentlich
verſchieden geſtaltet: es können aber auch nur zwei von den Beinen vorhanden ſein oder dieſe gänzlich
fehlen. Der Schwanz ändert in minder auffallender Weiſe ab als die Füße, zeigt aber doch ebenfalls
ſehr verſchiedene Bildungen. Das Paukenfell liegt oberflächlich; das Auge iſt in der Regel mit
Lidern verſehen; die äußere Bedeckung und die Färbung läßt eine allgemeine Schilderung kaum zu.
Auch der innere Bau des Leibes ſchwankt ſo erheblich, daß ich vorziehe, die wichtigſten Eigenthümlich-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. [56]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/70>, abgerufen am 19.11.2024.
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