Oken zerfällt die Klasse der Vögel in zwei Hauptabtheilungen oder "Stufen": in die der Nesthocker und die der Nestflüchter. "Man hat", sagt er, "die ganze Klasse der Vögel in zwei Haufen zertheilt, in Land- und Wasservögel, und unter diese auch die Sumpfvögel gerechnet. Dadurch entsteht aber eine sehr große Ungleichheit, indem die Anzahl der Landvögel gar zu groß ist." Das Letztere ist nun freilich kein Grund, um das Althergebrachte zu verwerfen; Oken bleibt uns aber bessere Gründe zur Rechtfertigung seiner Eintheilung nicht schuldig. "Jch sehe", fährt er fort, "auf die Entwicklung der Vögel. Die einen kommen nackt und blind aus dem Ei und müssen daher lange geäzt werden. Sie nenne ich Nesthocker. Die andern kommen schon ziemlich befiedert und sehend aus dem Ei und können fast sogleich laufen und ihre Nahrung suchen. Sie nenne ich Nestflüchter. Der Gang der ersteren ist hüpfend, der der zweiten schreitend; man könnte sie Hüpfer und Schreiter nennen. Jene halten sich hoch, und ihre Hauptbewegung ist der Flug, diese halten sich immer auf der Erde und im Wasser auf und fliegen nur, wenn es noth thut; man könnte sie Flieger und Läufer nennen. Jene sind an einerlei Nahrung gebunden, leben von Samen und Früchten auf dem Stengel oder von schnell beweglichen Thieren, diese leben von allem Möglichen, von abgefallenem Samen und Früchten und meist von langsam kriechenden Thieren, wie von Schnecken und Gewürm, Fischen, Lurchen, Vögeln und Säugethieren, von gekochtem Fleisch und Gemüse; man könnte sie Einerlei- und Allesfresser nennen. Jene sind ferner fast durchgängig klein, und die Mehrzahl erreicht nicht die Größe des Raben, diese dagegen sind meistens größer als ein Huhn; jene schlafen stehend, diese hockend etc."
Es läßt sich nicht verkennen, daß diese Unterschiede thatsächlich begründet und gewichtig sind; für die Aufstellung eines Systems haben sie jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung. Viele "Schreiter, Läufer, Allesfresser, Fußgänger, Schlafsteher" und wie Oken die Mitglieder einer seiner Stufen sonst noch genannt hat, sind Nesthocker, nicht Nestflüchter: wir würden also anscheinend enge Verwandte trennen müssen, wollten wir der Oken'schen Auffassung dem Wortlaute nach huldigen. Jmmerhin aber verdienen die von dem geistreichen Forscher entwickelten Ansichten unsere Berück- sichtigung, und jedenfalls darf ich es hier nicht unerwähnt lassen, daß wir uns fortan vorzugsweise mit Nestflüchtern zu beschäftigen haben werden.
Man hat eine Ordnung aufgestellt und ihr den Namen der Scharrvögel gegeben, weil man fühlte, daß die in ihr vereinigten Vögel doch nicht im strengsten Sinne zusammen gehören. Wäre das Gegentheil der Fall gewesen, so würden die Glieder dieser Ordnung passender Hühner oder Hühnervögel genannt worden sein. Jch habe den Ansichten der Mehrzahl der Thierkundigen Rechnung getragen und dieselbe Ordnungsgrenze angenommen, wie sie; es ist Dies jedoch keineswegs ohne ernste Bedenken geschehen, und wahrscheinlich würde ich mehrere Familien, welche man im allgemeinen zu den Hühnervögeln zählt, von diesen getrennt und zu eigenen Ordnungen erhoben haben, hätte ich den zu solcher Vornahme unerläßlich nöthigen Stoff zur Verfügung gehabt. Um diese meine Bedenken gleich hier vorzubringen, will ich bemerken, daß es sich meiner Ansicht nach hauptsächlich um die Flughühner, die Schaku- oder Penelopehühner, die Hokkos und die Großfußhühner handelt, welche Zweifel gegen die Ordnungsverwandtschaft aller Scharrvögel als sehr begründet erscheinen lassen. Jch verwahre mich also gegen jede falsche Auslegung, welche das Nachstehende erleiden könnte, indem ich ausdrücklich erkläre, daß, meiner Anschauung nach, die Unter-
Die Läufer. Scharrvögel.
Elfte Ordnung. Die Scharrvögel (Rasores).
Oken zerfällt die Klaſſe der Vögel in zwei Hauptabtheilungen oder „Stufen“: in die der Neſthocker und die der Neſtflüchter. „Man hat“, ſagt er, „die ganze Klaſſe der Vögel in zwei Haufen zertheilt, in Land- und Waſſervögel, und unter dieſe auch die Sumpfvögel gerechnet. Dadurch entſteht aber eine ſehr große Ungleichheit, indem die Anzahl der Landvögel gar zu groß iſt.“ Das Letztere iſt nun freilich kein Grund, um das Althergebrachte zu verwerfen; Oken bleibt uns aber beſſere Gründe zur Rechtfertigung ſeiner Eintheilung nicht ſchuldig. „Jch ſehe“, fährt er fort, „auf die Entwicklung der Vögel. Die einen kommen nackt und blind aus dem Ei und müſſen daher lange geäzt werden. Sie nenne ich Neſthocker. Die andern kommen ſchon ziemlich befiedert und ſehend aus dem Ei und können faſt ſogleich laufen und ihre Nahrung ſuchen. Sie nenne ich Neſtflüchter. Der Gang der erſteren iſt hüpfend, der der zweiten ſchreitend; man könnte ſie Hüpfer und Schreiter nennen. Jene halten ſich hoch, und ihre Hauptbewegung iſt der Flug, dieſe halten ſich immer auf der Erde und im Waſſer auf und fliegen nur, wenn es noth thut; man könnte ſie Flieger und Läufer nennen. Jene ſind an einerlei Nahrung gebunden, leben von Samen und Früchten auf dem Stengel oder von ſchnell beweglichen Thieren, dieſe leben von allem Möglichen, von abgefallenem Samen und Früchten und meiſt von langſam kriechenden Thieren, wie von Schnecken und Gewürm, Fiſchen, Lurchen, Vögeln und Säugethieren, von gekochtem Fleiſch und Gemüſe; man könnte ſie Einerlei- und Allesfreſſer nennen. Jene ſind ferner faſt durchgängig klein, und die Mehrzahl erreicht nicht die Größe des Raben, dieſe dagegen ſind meiſtens größer als ein Huhn; jene ſchlafen ſtehend, dieſe hockend ꝛc.“
Es läßt ſich nicht verkennen, daß dieſe Unterſchiede thatſächlich begründet und gewichtig ſind; für die Aufſtellung eines Syſtems haben ſie jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung. Viele „Schreiter, Läufer, Allesfreſſer, Fußgänger, Schlafſteher“ und wie Oken die Mitglieder einer ſeiner Stufen ſonſt noch genannt hat, ſind Neſthocker, nicht Neſtflüchter: wir würden alſo anſcheinend enge Verwandte trennen müſſen, wollten wir der Oken’ſchen Auffaſſung dem Wortlaute nach huldigen. Jmmerhin aber verdienen die von dem geiſtreichen Forſcher entwickelten Anſichten unſere Berück- ſichtigung, und jedenfalls darf ich es hier nicht unerwähnt laſſen, daß wir uns fortan vorzugsweiſe mit Neſtflüchtern zu beſchäftigen haben werden.
Man hat eine Ordnung aufgeſtellt und ihr den Namen der Scharrvögel gegeben, weil man fühlte, daß die in ihr vereinigten Vögel doch nicht im ſtrengſten Sinne zuſammen gehören. Wäre das Gegentheil der Fall geweſen, ſo würden die Glieder dieſer Ordnung paſſender Hühner oder Hühnervögel genannt worden ſein. Jch habe den Anſichten der Mehrzahl der Thierkundigen Rechnung getragen und dieſelbe Ordnungsgrenze angenommen, wie ſie; es iſt Dies jedoch keineswegs ohne ernſte Bedenken geſchehen, und wahrſcheinlich würde ich mehrere Familien, welche man im allgemeinen zu den Hühnervögeln zählt, von dieſen getrennt und zu eigenen Ordnungen erhoben haben, hätte ich den zu ſolcher Vornahme unerläßlich nöthigen Stoff zur Verfügung gehabt. Um dieſe meine Bedenken gleich hier vorzubringen, will ich bemerken, daß es ſich meiner Anſicht nach hauptſächlich um die Flughühner, die Schaku- oder Penelopehühner, die Hokkos und die Großfußhühner handelt, welche Zweifel gegen die Ordnungsverwandtſchaft aller Scharrvögel als ſehr begründet erſcheinen laſſen. Jch verwahre mich alſo gegen jede falſche Auslegung, welche das Nachſtehende erleiden könnte, indem ich ausdrücklich erkläre, daß, meiner Anſchauung nach, die Unter-
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Die Läufer. Scharrvögel.
Elfte Ordnung.
Die Scharrvögel (Rasores).
Oken zerfällt die Klaſſe der Vögel in zwei Hauptabtheilungen oder „Stufen“: in die der
Neſthocker und die der Neſtflüchter. „Man hat“, ſagt er, „die ganze Klaſſe der Vögel in zwei
Haufen zertheilt, in Land- und Waſſervögel, und unter dieſe auch die Sumpfvögel gerechnet. Dadurch
entſteht aber eine ſehr große Ungleichheit, indem die Anzahl der Landvögel gar zu groß iſt.“ Das
Letztere iſt nun freilich kein Grund, um das Althergebrachte zu verwerfen; Oken bleibt uns aber
beſſere Gründe zur Rechtfertigung ſeiner Eintheilung nicht ſchuldig. „Jch ſehe“, fährt er fort,
„auf die Entwicklung der Vögel. Die einen kommen nackt und blind aus dem Ei und müſſen
daher lange geäzt werden. Sie nenne ich Neſthocker. Die andern kommen ſchon ziemlich befiedert
und ſehend aus dem Ei und können faſt ſogleich laufen und ihre Nahrung ſuchen. Sie nenne ich
Neſtflüchter. Der Gang der erſteren iſt hüpfend, der der zweiten ſchreitend; man könnte ſie
Hüpfer und Schreiter nennen. Jene halten ſich hoch, und ihre Hauptbewegung iſt der Flug,
dieſe halten ſich immer auf der Erde und im Waſſer auf und fliegen nur, wenn es noth thut; man
könnte ſie Flieger und Läufer nennen. Jene ſind an einerlei Nahrung gebunden, leben von
Samen und Früchten auf dem Stengel oder von ſchnell beweglichen Thieren, dieſe leben von
allem Möglichen, von abgefallenem Samen und Früchten und meiſt von langſam kriechenden
Thieren, wie von Schnecken und Gewürm, Fiſchen, Lurchen, Vögeln und Säugethieren, von
gekochtem Fleiſch und Gemüſe; man könnte ſie Einerlei- und Allesfreſſer nennen. Jene ſind
ferner faſt durchgängig klein, und die Mehrzahl erreicht nicht die Größe des Raben, dieſe dagegen
ſind meiſtens größer als ein Huhn; jene ſchlafen ſtehend, dieſe hockend ꝛc.“
Es läßt ſich nicht verkennen, daß dieſe Unterſchiede thatſächlich begründet und gewichtig ſind; für
die Aufſtellung eines Syſtems haben ſie jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung. Viele „Schreiter,
Läufer, Allesfreſſer, Fußgänger, Schlafſteher“ und wie Oken die Mitglieder einer ſeiner Stufen
ſonſt noch genannt hat, ſind Neſthocker, nicht Neſtflüchter: wir würden alſo anſcheinend enge
Verwandte trennen müſſen, wollten wir der Oken’ſchen Auffaſſung dem Wortlaute nach huldigen.
Jmmerhin aber verdienen die von dem geiſtreichen Forſcher entwickelten Anſichten unſere Berück-
ſichtigung, und jedenfalls darf ich es hier nicht unerwähnt laſſen, daß wir uns fortan vorzugsweiſe
mit Neſtflüchtern zu beſchäftigen haben werden.
Man hat eine Ordnung aufgeſtellt und ihr den Namen der Scharrvögel gegeben,
weil man fühlte, daß die in ihr vereinigten Vögel doch nicht im ſtrengſten Sinne zuſammen gehören.
Wäre das Gegentheil der Fall geweſen, ſo würden die Glieder dieſer Ordnung paſſender Hühner
oder Hühnervögel genannt worden ſein. Jch habe den Anſichten der Mehrzahl der Thierkundigen
Rechnung getragen und dieſelbe Ordnungsgrenze angenommen, wie ſie; es iſt Dies jedoch keineswegs
ohne ernſte Bedenken geſchehen, und wahrſcheinlich würde ich mehrere Familien, welche man im
allgemeinen zu den Hühnervögeln zählt, von dieſen getrennt und zu eigenen Ordnungen erhoben
haben, hätte ich den zu ſolcher Vornahme unerläßlich nöthigen Stoff zur Verfügung gehabt. Um
dieſe meine Bedenken gleich hier vorzubringen, will ich bemerken, daß es ſich meiner Anſicht nach
hauptſächlich um die Flughühner, die Schaku- oder Penelopehühner, die Hokkos und die
Großfußhühner handelt, welche Zweifel gegen die Ordnungsverwandtſchaft aller Scharrvögel
als ſehr begründet erſcheinen laſſen. Jch verwahre mich alſo gegen jede falſche Auslegung, welche das
Nachſtehende erleiden könnte, indem ich ausdrücklich erkläre, daß, meiner Anſchauung nach, die Unter-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/328>, abgerufen am 19.11.2024.
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