Aber werden wir denn die große Anforderung, die Natur zu durchschauen, ihre tief verborgenen Gesetze mit unserm schwa- chen Verstande zu ergründen, erfüllen können? Wird es uns je gelingen, die unzählbaren Räthsel zu lösen, welche das in seiner Größe unermeßliche, in der Verwickelung seiner Erscheinungen immer neue Tiefen darbietende Weltgebäude uns vorlegt? -- Diese Frage wird zwar niemand mit der kühnen Hoffnung, je die Natur ganz zu ergründen, beantworten; aber wir fühlen die Kraft in uns, immer tiefer eindringend in die Gesetze der Natur, ein Geheimniß nach dem andern zu durchforschen, und in der Lö- sung einer Aufgabe, die allerdings unendlich ist, immer weiter fortzuschreiten. Und so wollen auch wir den Versuch wagen, wie weit uns dieses gelingen mag.
Gegenstand der Naturlehre.
Ich breche diese Vorrede ab, um sogleich den Gegenstand, der uns beschäftigen soll, selbst ins Auge zu fassen. Bei der Be- trachtung der uns umgebenden Welt bemerken wir, daß wir auf eine zweifache Weise uns mit den Gegenständen und Erscheinun- gen, welche wir beobachten, bekannt machen können, daß wir näm- lich theils die Merkmale, wodurch ein Gegenstand sich von dem andern unterscheidet, auffassen müssen, theils die Veränderungen, die sich uns zeigen, bemerken, und wie sie auf einander folgen, beobachten müssen, um die Ursachen, warum sie so erfolgen, ken- nen zu lernen. Jenes Bestreben, die gleichartigen und ungleich- artigen Merkmale, welche den Gegenständen dauernd eigen sind, kennen zu lernen, führt zu derjenigen Wissenschaft, welche wir Naturgeschichte oder Naturbeschreibung nennen. Sie hat den Zweck, die gleichartigen oder die einander verwandten Körper im Thierreiche, im Pflanzenreiche und im Mineralreiche kennen zu lehren, sie in ein System zu ordnen und dadurch den Beob- achter ähnlicher Gegenstände in Stand zu setzen, diesen ihren richtigen Ort im Systeme, das nach gewissen Merkmalen classi- ficirt, anzuweisen. Die Zoologie, die Botanik, die Mineralogie, beschäftigen sich bloß hiemit, und sofern sie bloß in dem Bezirke der Naturbeschreibung bleiben, fragen sie nicht nach den Ursachen der Veränderungen, welche an den in ihr Gebiet gehörigen Kör-
Aber werden wir denn die große Anforderung, die Natur zu durchſchauen, ihre tief verborgenen Geſetze mit unſerm ſchwa- chen Verſtande zu ergruͤnden, erfuͤllen koͤnnen? Wird es uns je gelingen, die unzaͤhlbaren Raͤthſel zu loͤſen, welche das in ſeiner Groͤße unermeßliche, in der Verwickelung ſeiner Erſcheinungen immer neue Tiefen darbietende Weltgebaͤude uns vorlegt? — Dieſe Frage wird zwar niemand mit der kuͤhnen Hoffnung, je die Natur ganz zu ergruͤnden, beantworten; aber wir fuͤhlen die Kraft in uns, immer tiefer eindringend in die Geſetze der Natur, ein Geheimniß nach dem andern zu durchforſchen, und in der Loͤ- ſung einer Aufgabe, die allerdings unendlich iſt, immer weiter fortzuſchreiten. Und ſo wollen auch wir den Verſuch wagen, wie weit uns dieſes gelingen mag.
Gegenſtand der Naturlehre.
Ich breche dieſe Vorrede ab, um ſogleich den Gegenſtand, der uns beſchaͤftigen ſoll, ſelbſt ins Auge zu faſſen. Bei der Be- trachtung der uns umgebenden Welt bemerken wir, daß wir auf eine zweifache Weiſe uns mit den Gegenſtaͤnden und Erſcheinun- gen, welche wir beobachten, bekannt machen koͤnnen, daß wir naͤm- lich theils die Merkmale, wodurch ein Gegenſtand ſich von dem andern unterſcheidet, auffaſſen muͤſſen, theils die Veraͤnderungen, die ſich uns zeigen, bemerken, und wie ſie auf einander folgen, beobachten muͤſſen, um die Urſachen, warum ſie ſo erfolgen, ken- nen zu lernen. Jenes Beſtreben, die gleichartigen und ungleich- artigen Merkmale, welche den Gegenſtaͤnden dauernd eigen ſind, kennen zu lernen, fuͤhrt zu derjenigen Wiſſenſchaft, welche wir Naturgeſchichte oder Naturbeſchreibung nennen. Sie hat den Zweck, die gleichartigen oder die einander verwandten Koͤrper im Thierreiche, im Pflanzenreiche und im Mineralreiche kennen zu lehren, ſie in ein Syſtem zu ordnen und dadurch den Beob- achter aͤhnlicher Gegenſtaͤnde in Stand zu ſetzen, dieſen ihren richtigen Ort im Syſteme, das nach gewiſſen Merkmalen claſſi- ficirt, anzuweiſen. Die Zoologie, die Botanik, die Mineralogie, beſchaͤftigen ſich bloß hiemit, und ſofern ſie bloß in dem Bezirke der Naturbeſchreibung bleiben, fragen ſie nicht nach den Urſachen der Veraͤnderungen, welche an den in ihr Gebiet gehoͤrigen Koͤr-
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[02[2]/0024]
Aber werden wir denn die große Anforderung, die Natur
zu durchſchauen, ihre tief verborgenen Geſetze mit unſerm ſchwa-
chen Verſtande zu ergruͤnden, erfuͤllen koͤnnen? Wird es uns je
gelingen, die unzaͤhlbaren Raͤthſel zu loͤſen, welche das in ſeiner
Groͤße unermeßliche, in der Verwickelung ſeiner Erſcheinungen
immer neue Tiefen darbietende Weltgebaͤude uns vorlegt? —
Dieſe Frage wird zwar niemand mit der kuͤhnen Hoffnung, je
die Natur ganz zu ergruͤnden, beantworten; aber wir fuͤhlen die
Kraft in uns, immer tiefer eindringend in die Geſetze der Natur,
ein Geheimniß nach dem andern zu durchforſchen, und in der Loͤ-
ſung einer Aufgabe, die allerdings unendlich iſt, immer weiter
fortzuſchreiten. Und ſo wollen auch wir den Verſuch wagen, wie
weit uns dieſes gelingen mag.
Gegenſtand der Naturlehre.
Ich breche dieſe Vorrede ab, um ſogleich den Gegenſtand,
der uns beſchaͤftigen ſoll, ſelbſt ins Auge zu faſſen. Bei der Be-
trachtung der uns umgebenden Welt bemerken wir, daß wir auf
eine zweifache Weiſe uns mit den Gegenſtaͤnden und Erſcheinun-
gen, welche wir beobachten, bekannt machen koͤnnen, daß wir naͤm-
lich theils die Merkmale, wodurch ein Gegenſtand ſich von dem
andern unterſcheidet, auffaſſen muͤſſen, theils die Veraͤnderungen,
die ſich uns zeigen, bemerken, und wie ſie auf einander folgen,
beobachten muͤſſen, um die Urſachen, warum ſie ſo erfolgen, ken-
nen zu lernen. Jenes Beſtreben, die gleichartigen und ungleich-
artigen Merkmale, welche den Gegenſtaͤnden dauernd eigen ſind,
kennen zu lernen, fuͤhrt zu derjenigen Wiſſenſchaft, welche wir
Naturgeſchichte oder Naturbeſchreibung nennen. Sie hat
den Zweck, die gleichartigen oder die einander verwandten Koͤrper
im Thierreiche, im Pflanzenreiche und im Mineralreiche kennen
zu lehren, ſie in ein Syſtem zu ordnen und dadurch den Beob-
achter aͤhnlicher Gegenſtaͤnde in Stand zu ſetzen, dieſen ihren
richtigen Ort im Syſteme, das nach gewiſſen Merkmalen claſſi-
ficirt, anzuweiſen. Die Zoologie, die Botanik, die Mineralogie,
beſchaͤftigen ſich bloß hiemit, und ſofern ſie bloß in dem Bezirke
der Naturbeſchreibung bleiben, fragen ſie nicht nach den Urſachen
der Veraͤnderungen, welche an den in ihr Gebiet gehoͤrigen Koͤr-
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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 02[2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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