LXXIV. Wohlehrwürdiger, Hoch- und Wohlge- lehrter Herr Pfarrer Johann Caspar Lavater!
Mitten in einer entsetzlich bangen Nacht unterwind' ich mich, an Sie zu schreiben. Keine Seel' in der Welt weißt es; und keine Seel' weißt meine Noth. Ich kenne Sie aus Ihren Schriften und vom Gerüch- te. Wüßt' ich nun freylich nicht von diesem, daß Sie einer der beßten, edelsten Menschen wären, dürft' ich von Ihnen wohl keine andre Antwort er- warten, als wie etwa von einem Grossen der Erde. Z. E. Pack dich, Schurke! Was gehn mich deine Lumpereyen an. -- Aber nein! ich kenne Sie als einen Mann voll Großmuth und Menschenliebe, welchen die Vorsehung zum Lehrer und Arzt der itzigen Menschheit ordentlich scheint bestimmt zu haben. Al- lein Sie kennen mich nicht. Geschwind will ich al- so sagen, wer ich bin. O werfen Sie doch den Brief eines elenden Tockenburgers nicht ungesehn auf die Seite, eines armen gequälten Mannes, der sich mit zitternder Hand an Sie wendet, und es wagt, sein Herz gegen einen Herrn auszuschütten, gegen den er ein so inniges Zutrauen fühlt. O hören Sie mich, daß Gott Sie auch höre! Er weiß, daß ich nicht im Sinn habe, ihnen weiter beschwerlich zu fallen, als nur Sie zu bitten, diese Zeilen zu lesen, und mir dann ihren väterlichen Rath zu ertheilen. Also. Ich
LXXIV. Wohlehrwuͤrdiger, Hoch- und Wohlge- lehrter Herr Pfarrer Johann Caſpar Lavater!
Mitten in einer entſetzlich bangen Nacht unterwind’ ich mich, an Sie zu ſchreiben. Keine Seel’ in der Welt weißt es; und keine Seel’ weißt meine Noth. Ich kenne Sie aus Ihren Schriften und vom Geruͤch- te. Wuͤßt’ ich nun freylich nicht von dieſem, daß Sie einer der beßten, edelſten Menſchen waͤren, duͤrft’ ich von Ihnen wohl keine andre Antwort er- warten, als wie etwa von einem Groſſen der Erde. Z. E. Pack dich, Schurke! Was gehn mich deine Lumpereyen an. — Aber nein! ich kenne Sie als einen Mann voll Großmuth und Menſchenliebe, welchen die Vorſehung zum Lehrer und Arzt der itzigen Menſchheit ordentlich ſcheint beſtimmt zu haben. Al- lein Sie kennen mich nicht. Geſchwind will ich al- ſo ſagen, wer ich bin. O werfen Sie doch den Brief eines elenden Tockenburgers nicht ungeſehn auf die Seite, eines armen gequaͤlten Mannes, der ſich mit zitternder Hand an Sie wendet, und es wagt, ſein Herz gegen einen Herrn auszuſchuͤtten, gegen den er ein ſo inniges Zutrauen fuͤhlt. O hoͤren Sie mich, daß Gott Sie auch hoͤre! Er weiß, daß ich nicht im Sinn habe, ihnen weiter beſchwerlich zu fallen, als nur Sie zu bitten, dieſe Zeilen zu leſen, und mir dann ihren vaͤterlichen Rath zu ertheilen. Alſo. Ich
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LXXIV.
Wohlehrwuͤrdiger, Hoch- und Wohlge-
lehrter Herr Pfarrer Johann Caſpar
Lavater!
Mitten in einer entſetzlich bangen Nacht unterwind’
ich mich, an Sie zu ſchreiben. Keine Seel’ in der
Welt weißt es; und keine Seel’ weißt meine Noth.
Ich kenne Sie aus Ihren Schriften und vom Geruͤch-
te. Wuͤßt’ ich nun freylich nicht von dieſem, daß
Sie einer der beßten, edelſten Menſchen waͤren,
duͤrft’ ich von Ihnen wohl keine andre Antwort er-
warten, als wie etwa von einem Groſſen der Erde.
Z. E. Pack dich, Schurke! Was gehn mich deine
Lumpereyen an. — Aber nein! ich kenne Sie als einen
Mann voll Großmuth und Menſchenliebe, welchen
die Vorſehung zum Lehrer und Arzt der itzigen
Menſchheit ordentlich ſcheint beſtimmt zu haben. Al-
lein Sie kennen mich nicht. Geſchwind will ich al-
ſo ſagen, wer ich bin. O werfen Sie doch den Brief
eines elenden Tockenburgers nicht ungeſehn auf die
Seite, eines armen gequaͤlten Mannes, der ſich mit
zitternder Hand an Sie wendet, und es wagt, ſein
Herz gegen einen Herrn auszuſchuͤtten, gegen den er
ein ſo inniges Zutrauen fuͤhlt. O hoͤren Sie mich,
daß Gott Sie auch hoͤre! Er weiß, daß ich nicht im
Sinn habe, ihnen weiter beſchwerlich zu fallen, als
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dann ihren vaͤterlichen Rath zu ertheilen. Alſo. Ich
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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/235>, abgerufen am 07.01.2025.
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