Länger konnt' ich dem Burschen nicht abpassen; denn so nahe bey meiner Heimath, brannt' ich vor Begierde, dieselbe völlig zu erreichen. Also den 26. Okt. Morgens früh' nahm ich den Weg zum letzten- mal unter die Füsse, rannte wie ein Reh über Stock und Stein', und die lebhafte Vorstellung des Wie- dersehns von Eltern, Geschwisterten, und meinem Liebchen, gieng mir einstweilig für Essen und Trin- ken. Als ich nun dergestalt meinem geliebten Watt- weil immer näher und näher, und endlich auf die schöne Anhöhe kam, von welcher ich seinen Kirchthurm ganz nahe unter mir erblickte, bewegte sich alles in mir, und grosse Thränen rollten haufenweis über meine Wangen herab. O du erwünschter, gesegneter Ort! so hab' ich dich wieder, und niemand wird mich weiter von dir nehmen, dacht' ich so ihm Herunter- trollen wohl hundertmal; und dankte dabey immer Gottes Vorsehung, die mich aus so vielen Gefah- ren, wo nicht wunderbar doch höchstgütig gerettet hat. Auf der Brücke zu Wattweil, redte mich ein alter Bekanter, Gämperle, an, der vor mei- nem Weggehn um meine Liebesgeschichte gewußt hatte; und dessen erstes Wort war: "Je gelt! dei- "ne Anne ist auch verplempert; dein Vetter Mi- "chel war so glückselig, und sie hat schon ein Kind". -- Das fuhr mir ja durch Mark und Bein; indessen
LVIII. O des geliebten ſuͤſſen Vaterlands!
Laͤnger konnt’ ich dem Burſchen nicht abpaſſen; denn ſo nahe bey meiner Heimath, brannt’ ich vor Begierde, dieſelbe voͤllig zu erreichen. Alſo den 26. Okt. Morgens fruͤh’ nahm ich den Weg zum letzten- mal unter die Fuͤſſe, rannte wie ein Reh uͤber Stock und Stein’, und die lebhafte Vorſtellung des Wie- derſehns von Eltern, Geſchwiſterten, und meinem Liebchen, gieng mir einſtweilig fuͤr Eſſen und Trin- ken. Als ich nun dergeſtalt meinem geliebten Watt- weil immer naͤher und naͤher, und endlich auf die ſchoͤne Anhoͤhe kam, von welcher ich ſeinen Kirchthurm ganz nahe unter mir erblickte, bewegte ſich alles in mir, und groſſe Thraͤnen rollten haufenweis uͤber meine Wangen herab. O du erwuͤnſchter, geſegneter Ort! ſo hab’ ich dich wieder, und niemand wird mich weiter von dir nehmen, dacht’ ich ſo ihm Herunter- trollen wohl hundertmal; und dankte dabey immer Gottes Vorſehung, die mich aus ſo vielen Gefah- ren, wo nicht wunderbar doch hoͤchſtguͤtig gerettet hat. Auf der Bruͤcke zu Wattweil, redte mich ein alter Bekanter, Gaͤmperle, an, der vor mei- nem Weggehn um meine Liebesgeſchichte gewußt hatte; und deſſen erſtes Wort war: „Je gelt! dei- „ne Anne iſt auch verplempert; dein Vetter Mi- „chel war ſo gluͤckſelig, und ſie hat ſchon ein Kind„. — Das fuhr mir ja durch Mark und Bein; indeſſen
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LVIII.
O des geliebten ſuͤſſen Vaterlands!
Laͤnger konnt’ ich dem Burſchen nicht abpaſſen;
denn ſo nahe bey meiner Heimath, brannt’ ich vor
Begierde, dieſelbe voͤllig zu erreichen. Alſo den 26.
Okt. Morgens fruͤh’ nahm ich den Weg zum letzten-
mal unter die Fuͤſſe, rannte wie ein Reh uͤber Stock
und Stein’, und die lebhafte Vorſtellung des Wie-
derſehns von Eltern, Geſchwiſterten, und meinem
Liebchen, gieng mir einſtweilig fuͤr Eſſen und Trin-
ken. Als ich nun dergeſtalt meinem geliebten Watt-
weil immer naͤher und naͤher, und endlich auf die
ſchoͤne Anhoͤhe kam, von welcher ich ſeinen Kirchthurm
ganz nahe unter mir erblickte, bewegte ſich alles in
mir, und groſſe Thraͤnen rollten haufenweis uͤber
meine Wangen herab. O du erwuͤnſchter, geſegneter
Ort! ſo hab’ ich dich wieder, und niemand wird mich
weiter von dir nehmen, dacht’ ich ſo ihm Herunter-
trollen wohl hundertmal; und dankte dabey immer
Gottes Vorſehung, die mich aus ſo vielen Gefah-
ren, wo nicht wunderbar doch hoͤchſtguͤtig gerettet
hat. Auf der Bruͤcke zu Wattweil, redte mich
ein alter Bekanter, Gaͤmperle, an, der vor mei-
nem Weggehn um meine Liebesgeſchichte gewußt
hatte; und deſſen erſtes Wort war: „Je gelt! dei-
„ne Anne iſt auch verplempert; dein Vetter Mi-
„chel war ſo gluͤckſelig, und ſie hat ſchon ein Kind„. —
Das fuhr mir ja durch Mark und Bein; indeſſen
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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/180>, abgerufen am 01.03.2025.
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