Gestern Abend im Bette fing ich die Leidens¬ geschichte eines Italiänischen Staatsgefangenen zu lesen an. Nach dem Kapitel worin er von den schrecklichen Gefühlen spricht, mit welchen man am ersten Morgen in einem Gefängnisse erwacht, schlief ich ein. Und als ich diesen Morgen erwachte, war mein erster froher Gedanke: Du bist frei! Und mein zweiter froher Gedanke war: Du bist nicht frei! Denn wärest du frei, würdest du nicht so froh sein, daß heute Samstag ist, der dir einen Brief bringt. Aber ich Glücklicher! Das ist kein carcero duro, und ich will es gern ertragen mein Leben lang. Ich erzähle Ihnen noch aus dem Buche. Es heißt: Le mie prigioni, memorie di Silvio Tellico da Saluzzo. Es ist ein Dichter aus Pie¬ mont, der zehen Jahre seines Lebens, von 1820 bis 1830, von seinem dreißigsten bis zu seinem vierzigsten Jahre, in verschiedenen Oestreichischen Staatsgefängnissen geschmachtet. Ich bringe das Buch mit. Künftigen Sommer, an solchen Abenden, wo die Lüfte trunken von den Bergen kommen, lese ich Ihnen daraus vor, Ihre Pulse zu stillen. Ich lernte Wilhelm Tell verstehen, und wie ihm vor dem
Samſtag, den 23. Februar.
Geſtern Abend im Bette fing ich die Leidens¬ geſchichte eines Italiäniſchen Staatsgefangenen zu leſen an. Nach dem Kapitel worin er von den ſchrecklichen Gefühlen ſpricht, mit welchen man am erſten Morgen in einem Gefängniſſe erwacht, ſchlief ich ein. Und als ich dieſen Morgen erwachte, war mein erſter froher Gedanke: Du biſt frei! Und mein zweiter froher Gedanke war: Du biſt nicht frei! Denn wäreſt du frei, würdeſt du nicht ſo froh ſein, daß heute Samſtag iſt, der dir einen Brief bringt. Aber ich Glücklicher! Das iſt kein carcero duro, und ich will es gern ertragen mein Leben lang. Ich erzähle Ihnen noch aus dem Buche. Es heißt: Le mie prigioni, memorie di Silvio Tellico da Saluzzo. Es iſt ein Dichter aus Pie¬ mont, der zehen Jahre ſeines Lebens, von 1820 bis 1830, von ſeinem dreißigſten bis zu ſeinem vierzigſten Jahre, in verſchiedenen Oeſtreichiſchen Staatsgefängniſſen geſchmachtet. Ich bringe das Buch mit. Künftigen Sommer, an ſolchen Abenden, wo die Lüfte trunken von den Bergen kommen, leſe ich Ihnen daraus vor, Ihre Pulſe zu ſtillen. Ich lernte Wilhelm Tell verſtehen, und wie ihm vor dem
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Samſtag, den 23. Februar.
Geſtern Abend im Bette fing ich die Leidens¬
geſchichte eines Italiäniſchen Staatsgefangenen zu
leſen an. Nach dem Kapitel worin er von den
ſchrecklichen Gefühlen ſpricht, mit welchen man am
erſten Morgen in einem Gefängniſſe erwacht, ſchlief
ich ein. Und als ich dieſen Morgen erwachte, war
mein erſter froher Gedanke: Du biſt frei! Und
mein zweiter froher Gedanke war: Du biſt nicht
frei! Denn wäreſt du frei, würdeſt du nicht ſo froh
ſein, daß heute Samſtag iſt, der dir einen Brief
bringt. Aber ich Glücklicher! Das iſt kein carcero
duro, und ich will es gern ertragen mein Leben
lang. Ich erzähle Ihnen noch aus dem Buche.
Es heißt: Le mie prigioni, memorie di Silvio
Tellico da Saluzzo. Es iſt ein Dichter aus Pie¬
mont, der zehen Jahre ſeines Lebens, von 1820
bis 1830, von ſeinem dreißigſten bis zu ſeinem
vierzigſten Jahre, in verſchiedenen Oeſtreichiſchen
Staatsgefängniſſen geſchmachtet. Ich bringe das
Buch mit. Künftigen Sommer, an ſolchen Abenden,
wo die Lüfte trunken von den Bergen kommen, leſe
ich Ihnen daraus vor, Ihre Pulſe zu ſtillen. Ich
lernte Wilhelm Tell verſtehen, und wie ihm vor dem
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/145>, abgerufen am 16.07.2024.
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