Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834.Samstag, den 23. Februar. Gestern Abend im Bette fing ich die Leidens¬ Samſtag, den 23. Februar. Geſtern Abend im Bette fing ich die Leidens¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0145" n="133"/> <div> <dateline rendition="#right">Samſtag, den 23. Februar.</dateline><lb/> <p>Geſtern Abend im Bette fing ich die Leidens¬<lb/> geſchichte eines Italiäniſchen Staatsgefangenen zu<lb/> leſen an. Nach dem Kapitel worin er von den<lb/> ſchrecklichen Gefühlen ſpricht, mit welchen man am<lb/> erſten Morgen in einem Gefängniſſe erwacht, ſchlief<lb/> ich ein. Und als ich dieſen Morgen erwachte, war<lb/> mein erſter froher Gedanke: <hi rendition="#g">Du biſt frei</hi>! Und<lb/> mein zweiter froher Gedanke war: Du biſt <hi rendition="#g">nicht</hi><lb/> frei! Denn wäreſt du frei, würdeſt du nicht ſo froh<lb/> ſein, daß heute Samſtag iſt, der dir einen Brief<lb/> bringt. Aber ich Glücklicher! Das iſt kein <hi rendition="#aq">carcero<lb/> duro</hi>, und ich will es gern ertragen mein Leben<lb/> lang. Ich erzähle Ihnen noch aus dem Buche.<lb/> Es heißt: <hi rendition="#aq">Le mie prigioni, memorie di Silvio<lb/> Tellico da Saluzzo</hi>. Es iſt ein Dichter aus Pie¬<lb/> mont, der zehen Jahre ſeines Lebens, von 1820<lb/> bis 1830, von ſeinem dreißigſten bis zu ſeinem<lb/> vierzigſten Jahre, in verſchiedenen Oeſtreichiſchen<lb/> Staatsgefängniſſen geſchmachtet. Ich bringe das<lb/> Buch mit. Künftigen Sommer, an ſolchen Abenden,<lb/> wo die Lüfte trunken von den Bergen kommen, leſe<lb/> ich Ihnen daraus vor, Ihre Pulſe zu ſtillen. Ich<lb/> lernte Wilhelm Tell verſtehen, und wie ihm vor dem<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [133/0145]
Samſtag, den 23. Februar.
Geſtern Abend im Bette fing ich die Leidens¬
geſchichte eines Italiäniſchen Staatsgefangenen zu
leſen an. Nach dem Kapitel worin er von den
ſchrecklichen Gefühlen ſpricht, mit welchen man am
erſten Morgen in einem Gefängniſſe erwacht, ſchlief
ich ein. Und als ich dieſen Morgen erwachte, war
mein erſter froher Gedanke: Du biſt frei! Und
mein zweiter froher Gedanke war: Du biſt nicht
frei! Denn wäreſt du frei, würdeſt du nicht ſo froh
ſein, daß heute Samſtag iſt, der dir einen Brief
bringt. Aber ich Glücklicher! Das iſt kein carcero
duro, und ich will es gern ertragen mein Leben
lang. Ich erzähle Ihnen noch aus dem Buche.
Es heißt: Le mie prigioni, memorie di Silvio
Tellico da Saluzzo. Es iſt ein Dichter aus Pie¬
mont, der zehen Jahre ſeines Lebens, von 1820
bis 1830, von ſeinem dreißigſten bis zu ſeinem
vierzigſten Jahre, in verſchiedenen Oeſtreichiſchen
Staatsgefängniſſen geſchmachtet. Ich bringe das
Buch mit. Künftigen Sommer, an ſolchen Abenden,
wo die Lüfte trunken von den Bergen kommen, leſe
ich Ihnen daraus vor, Ihre Pulſe zu ſtillen. Ich
lernte Wilhelm Tell verſtehen, und wie ihm vor dem
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