Nachrichten von dem Ursprung und Wachsthum der Critik bey den Deutschen.
OPizens poetische Schriften, welche die er- sten sind, die wir ohne Schamröthe an- ziehen dörffen, geben uns durch die Ein- drücke, so sie in dem Gemüthe verursachen, ge- nug zu erkennen, daß diesem geschickten Mann keines von denen Kunst-Stücken verborgen gewe- sen, wodurch das Hertz gerührt, und die Wahr- heiten auf eine angenehme Weise in den Verstand gebracht werden. Es wäre einem Wunderwer- ke gleich, wenn er Schriften, die so tüchtig sind, uns zu gefallen, und dieses mit so vieler Gewiß- heit und Gleichheit thun, ohne eine genaue Er- känntniß der Mittel, wodurch solches zuwegege- bracht wird, verfertiget hätte. Unterdessen hat er die Grundregeln, nach welchen er gearbeitet hat, die Anmerkungen von dem Verhältniß des mensch- lichen Gemüthes mit den Dingen, und die Mit- tel, wodurch dasselbe einer gewissen Absicht ge- mäß in Bewegung gesezet wird, lieber im Wer- ke selbst und in der Ausführung anwenden, als in einem Kunstbuche zusammenschreiben wollen. Er hat uns einzig und allein ein Lehrbuch von wenig Bogen hinterlassen, worinnen er etliche wenig allgemeine Anmerkungen von der Erfindung, von den Gattungen der Gedichte, von der Zubereitung und Zierde der Worte etc. zusammengetragen hat, ohne sich in die besondern Grundsätze und Theile der Dichtung oder der Rede tiefer einzulassen. Er
sagt
[Crit. Samml. II. St.] F 2
Nachrichten von dem Urſprung und Wachsthum der Critik bey den Deutſchen.
OPizens poetiſche Schriften, welche die er- ſten ſind, die wir ohne Schamroͤthe an- ziehen doͤrffen, geben uns durch die Ein- druͤcke, ſo ſie in dem Gemuͤthe verurſachen, ge- nug zu erkennen, daß dieſem geſchickten Mann keines von denen Kunſt-Stuͤcken verborgen gewe- ſen, wodurch das Hertz geruͤhrt, und die Wahr- heiten auf eine angenehme Weiſe in den Verſtand gebracht werden. Es waͤre einem Wunderwer- ke gleich, wenn er Schriften, die ſo tuͤchtig ſind, uns zu gefallen, und dieſes mit ſo vieler Gewiß- heit und Gleichheit thun, ohne eine genaue Er- kaͤnntniß der Mittel, wodurch ſolches zuwegege- bracht wird, verfertiget haͤtte. Unterdeſſen hat er die Grundregeln, nach welchen er gearbeitet hat, die Anmerkungen von dem Verhaͤltniß des menſch- lichen Gemuͤthes mit den Dingen, und die Mit- tel, wodurch daſſelbe einer gewiſſen Abſicht ge- maͤß in Bewegung geſezet wird, lieber im Wer- ke ſelbſt und in der Ausfuͤhrung anwenden, als in einem Kunſtbuche zuſammenſchreiben wollen. Er hat uns einzig und allein ein Lehrbuch von wenig Bogen hinterlaſſen, worinnen er etliche wenig allgemeine Anmerkungen von der Erfindung, von den Gattungen der Gedichte, von der Zubereitung und Zierde der Worte ꝛc. zuſammengetragen hat, ohne ſich in die beſondern Grundſaͤtze und Theile der Dichtung oder der Rede tiefer einzulaſſen. Er
ſagt
[Crit. Sam̃l. II. St.] F 2
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Nachrichten von dem Urſprung und
Wachsthum der Critik bey den
Deutſchen.
OPizens poetiſche Schriften, welche die er-
ſten ſind, die wir ohne Schamroͤthe an-
ziehen doͤrffen, geben uns durch die Ein-
druͤcke, ſo ſie in dem Gemuͤthe verurſachen, ge-
nug zu erkennen, daß dieſem geſchickten Mann
keines von denen Kunſt-Stuͤcken verborgen gewe-
ſen, wodurch das Hertz geruͤhrt, und die Wahr-
heiten auf eine angenehme Weiſe in den Verſtand
gebracht werden. Es waͤre einem Wunderwer-
ke gleich, wenn er Schriften, die ſo tuͤchtig ſind,
uns zu gefallen, und dieſes mit ſo vieler Gewiß-
heit und Gleichheit thun, ohne eine genaue Er-
kaͤnntniß der Mittel, wodurch ſolches zuwegege-
bracht wird, verfertiget haͤtte. Unterdeſſen hat er
die Grundregeln, nach welchen er gearbeitet hat,
die Anmerkungen von dem Verhaͤltniß des menſch-
lichen Gemuͤthes mit den Dingen, und die Mit-
tel, wodurch daſſelbe einer gewiſſen Abſicht ge-
maͤß in Bewegung geſezet wird, lieber im Wer-
ke ſelbſt und in der Ausfuͤhrung anwenden, als in
einem Kunſtbuche zuſammenſchreiben wollen. Er
hat uns einzig und allein ein Lehrbuch von wenig
Bogen hinterlaſſen, worinnen er etliche wenig
allgemeine Anmerkungen von der Erfindung, von
den Gattungen der Gedichte, von der Zubereitung
und Zierde der Worte ꝛc. zuſammengetragen hat,
ohne ſich in die beſondern Grundſaͤtze und Theile
der Dichtung oder der Rede tiefer einzulaſſen. Er
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[Crit. Sam̃l. II. St.] F 2
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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/85>, abgerufen am 23.02.2025.
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