nehmen, wenn es an dem Schutz des genössischen States fehlt. In unzähligen Fällen sind so in Asien Europäer von englischen oder russischen Gesanten geschützt worden, die weder dem englischen noch dem russischen Statsverband angehörten.
24.
Auch die Parteien, selbst die organisirten Kriegsparteien gelten, wenn sie nicht Staten sind, nicht als völkerrechtliche Personen im eigentlichen Sinn, obwohl sie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Um- ständen durch das Völkerrecht geschützte Ansprüche haben.
Ein Versuch zur Statenbildung zeigt sich zuweilen in der Organisation von Kriegsparteien, welche sich statliche Macht aneignen. Aber so lange sie es nicht zu wirklicher Statenbildung gebracht haben, können sie auch nicht als Glieder des Staten- vereins angesehen werden. Von der Art waren z. B. die aufständischen Bewohner der Vendee, während der französischen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das Corps von Schill 1813, die Freischaar Garibaldi's 1860. Vgl. unten Buch VIII. Cap. I.
25.
Nationale Gemeinschaften, welche keine statliche Organisation erhalten haben, sind weder im Stats- noch im Völkerrecht Personen geworden. Aber soweit in ihnen das allgemeine Menschenrecht zu schützen ist, ist der Schutz des Völkerrechts begründet.
Inwiefern die Nationen zugleich politische Völker geworden sind oder den Hauptstoff von Völkern bilden, bedürfen sie keines besondern völkerrechtlichen Schutzes. Der Statsschutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politisch gesicherte Stellung haben, in einer das Menschenrecht mißachtenden Weise von dem State selber unter- drückt werden, auf dessen Schutz sie zunächst angewiesen sind. Es ist ein auffallender Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberspannung der Statssouveränetät, daß für diesen Schutz noch so wenig gesorgt ist. Die gewaltsame Ausrottung der bar- barischen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäischer und amerikanischer Colonien, wie z. B. der Indianer in Amerika, ist eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch die zeitweisen Judenhetzen in europäischen Staten sind nicht bloß stats- sondern ebenso völkerrechtswidrig.
26.
Die christlichen Kirchen sind keine völkerrechtlichen Personen im obi- gen Sinn, indem sie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts sind, aber sie sind den Staten ähnliche Personen und können mit den Staten
Zweites Buch.
nehmen, wenn es an dem Schutz des genöſſiſchen States fehlt. In unzähligen Fällen ſind ſo in Aſien Europäer von engliſchen oder ruſſiſchen Geſanten geſchützt worden, die weder dem engliſchen noch dem ruſſiſchen Statsverband angehörten.
24.
Auch die Parteien, ſelbſt die organiſirten Kriegsparteien gelten, wenn ſie nicht Staten ſind, nicht als völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinn, obwohl ſie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Um- ſtänden durch das Völkerrecht geſchützte Anſprüche haben.
Ein Verſuch zur Statenbildung zeigt ſich zuweilen in der Organiſation von Kriegsparteien, welche ſich ſtatliche Macht aneignen. Aber ſo lange ſie es nicht zu wirklicher Statenbildung gebracht haben, können ſie auch nicht als Glieder des Staten- vereins angeſehen werden. Von der Art waren z. B. die aufſtändiſchen Bewohner der Vendée, während der franzöſiſchen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das Corps von Schill 1813, die Freiſchaar Garibaldi’s 1860. Vgl. unten Buch VIII. Cap. I.
25.
Nationale Gemeinſchaften, welche keine ſtatliche Organiſation erhalten haben, ſind weder im Stats- noch im Völkerrecht Perſonen geworden. Aber ſoweit in ihnen das allgemeine Menſchenrecht zu ſchützen iſt, iſt der Schutz des Völkerrechts begründet.
Inwiefern die Nationen zugleich politiſche Völker geworden ſind oder den Hauptſtoff von Völkern bilden, bedürfen ſie keines beſondern völkerrechtlichen Schutzes. Der Statsſchutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politiſch geſicherte Stellung haben, in einer das Menſchenrecht mißachtenden Weiſe von dem State ſelber unter- drückt werden, auf deſſen Schutz ſie zunächſt angewieſen ſind. Es iſt ein auffallender Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberſpannung der Statsſouveränetät, daß für dieſen Schutz noch ſo wenig geſorgt iſt. Die gewaltſame Ausrottung der bar- bariſchen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäiſcher und amerikaniſcher Colonien, wie z. B. der Indianer in Amerika, iſt eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch die zeitweiſen Judenhetzen in europäiſchen Staten ſind nicht bloß ſtats- ſondern ebenſo völkerrechtswidrig.
26.
Die chriſtlichen Kirchen ſind keine völkerrechtlichen Perſonen im obi- gen Sinn, indem ſie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts ſind, aber ſie ſind den Staten ähnliche Perſonen und können mit den Staten
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Zweites Buch.
nehmen, wenn es an dem Schutz des genöſſiſchen States fehlt. In unzähligen
Fällen ſind ſo in Aſien Europäer von engliſchen oder ruſſiſchen Geſanten geſchützt
worden, die weder dem engliſchen noch dem ruſſiſchen Statsverband angehörten.
24.
Auch die Parteien, ſelbſt die organiſirten Kriegsparteien gelten, wenn
ſie nicht Staten ſind, nicht als völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen
Sinn, obwohl ſie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Um-
ſtänden durch das Völkerrecht geſchützte Anſprüche haben.
Ein Verſuch zur Statenbildung zeigt ſich zuweilen in der Organiſation von
Kriegsparteien, welche ſich ſtatliche Macht aneignen. Aber ſo lange ſie es nicht zu
wirklicher Statenbildung gebracht haben, können ſie auch nicht als Glieder des Staten-
vereins angeſehen werden. Von der Art waren z. B. die aufſtändiſchen Bewohner
der Vendée, während der franzöſiſchen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das
Corps von Schill 1813, die Freiſchaar Garibaldi’s 1860. Vgl. unten Buch VIII.
Cap. I.
25.
Nationale Gemeinſchaften, welche keine ſtatliche Organiſation erhalten
haben, ſind weder im Stats- noch im Völkerrecht Perſonen geworden.
Aber ſoweit in ihnen das allgemeine Menſchenrecht zu ſchützen iſt, iſt der
Schutz des Völkerrechts begründet.
Inwiefern die Nationen zugleich politiſche Völker geworden ſind oder den
Hauptſtoff von Völkern bilden, bedürfen ſie keines beſondern völkerrechtlichen Schutzes.
Der Statsſchutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz
Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politiſch geſicherte Stellung
haben, in einer das Menſchenrecht mißachtenden Weiſe von dem State ſelber unter-
drückt werden, auf deſſen Schutz ſie zunächſt angewieſen ſind. Es iſt ein auffallender
Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberſpannung der Statsſouveränetät, daß
für dieſen Schutz noch ſo wenig geſorgt iſt. Die gewaltſame Ausrottung der bar-
bariſchen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäiſcher und amerikaniſcher Colonien,
wie z. B. der Indianer in Amerika, iſt eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch
die zeitweiſen Judenhetzen in europäiſchen Staten ſind nicht bloß ſtats- ſondern
ebenſo völkerrechtswidrig.
26.
Die chriſtlichen Kirchen ſind keine völkerrechtlichen Perſonen im obi-
gen Sinn, indem ſie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts ſind,
aber ſie ſind den Staten ähnliche Perſonen und können mit den Staten
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/88>, abgerufen am 22.02.2025.
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