Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States nicht, wenn die Reorganisation desselben in Aussicht bleibt.
Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Auf- stände oder Revolution erschüttert oder zerstört werden. Dadurch wird die Persön- lichkeit des States nicht aufgehoben, so wenig als der Einzelmensch dieselbe einbüßt, wenn der Fieberzustand seine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die Hauptstadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflösung der Statsord- nung zieht aber den Untergang eines States dann nach sich, wenn die Wiederher- stellung oder die Neugestaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als unmöglich erscheint. Das ist nur der Fall, wenn eine barbarische Rasse die Zügel des Stats abwirft, wie in den Negeraufständen von St. Domingo 1791 oder wenn eine statsfeindlich gesinnte Menge, wie die Wiedertäufer im sechszehnten Jahrhundert und die Communisten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.
20.
Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil sie keine festen Wohnsitze und kein eigenes Land haben; aber insofern sie als Völker geordnet sind und durch ihre Häupter oder ihre Versammlungen einen gemeinsamen öf- fentlichen Willen haben, werden sie den Staten ähnlich behandelt und können völkerrechtliche Verträge schließen. Die allgemein-menschlichen Pflich- ten des Völkerrechts liegen auch solchen Völkern ob.
Den Wanderstämmen fehlt es an der Stätigkeit und meistens auch an einer wirksamen Einheit. Sie sind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn sie sich dauernd in einem Lande niederlassen, wie vormals die Juden in Palästina, die arabischen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küsten des Mittel- meeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oströmischen Reiche, kön- nen sie neue Staten bilden. Aber auch während sie wandern, sind die Staaten, in deren Gebiet oder an deren Grenzen sie sich umher treiben, genöthigt, mit ihnen einzelne Rechtsverhältnisse durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder sie zur Be- achtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den Menschenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kir- gisen zu nöthigen, daß sie die Pflanzungen der civilisirten Nationen respectiren, wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.
21.
Dasselbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bis- heriges Land verlassen, um ein neues Gebiet in Besitz zu nehmen. Sie
Zweites Buch.
19.
Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States nicht, wenn die Reorganiſation desſelben in Ausſicht bleibt.
Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Auf- ſtände oder Revolution erſchüttert oder zerſtört werden. Dadurch wird die Perſön- lichkeit des States nicht aufgehoben, ſo wenig als der Einzelmenſch dieſelbe einbüßt, wenn der Fieberzuſtand ſeine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die Hauptſtadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflöſung der Statsord- nung zieht aber den Untergang eines States dann nach ſich, wenn die Wiederher- ſtellung oder die Neugeſtaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als unmöglich erſcheint. Das iſt nur der Fall, wenn eine barbariſche Raſſe die Zügel des Stats abwirft, wie in den Negeraufſtänden von St. Domingo 1791 oder wenn eine ſtatsfeindlich geſinnte Menge, wie die Wiedertäufer im ſechszehnten Jahrhundert und die Communiſten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.
20.
Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil ſie keine feſten Wohnſitze und kein eigenes Land haben; aber inſofern ſie als Völker geordnet ſind und durch ihre Häupter oder ihre Verſammlungen einen gemeinſamen öf- fentlichen Willen haben, werden ſie den Staten ähnlich behandelt und können völkerrechtliche Verträge ſchließen. Die allgemein-menſchlichen Pflich- ten des Völkerrechts liegen auch ſolchen Völkern ob.
Den Wanderſtämmen fehlt es an der Stätigkeit und meiſtens auch an einer wirkſamen Einheit. Sie ſind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn ſie ſich dauernd in einem Lande niederlaſſen, wie vormals die Juden in Paläſtina, die arabiſchen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küſten des Mittel- meeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oſtrömiſchen Reiche, kön- nen ſie neue Staten bilden. Aber auch während ſie wandern, ſind die Staaten, in deren Gebiet oder an deren Grenzen ſie ſich umher treiben, genöthigt, mit ihnen einzelne Rechtsverhältniſſe durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder ſie zur Be- achtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den Menſchenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kir- giſen zu nöthigen, daß ſie die Pflanzungen der civiliſirten Nationen reſpectiren, wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.
21.
Dasſelbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bis- heriges Land verlaſſen, um ein neues Gebiet in Beſitz zu nehmen. Sie
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Zweites Buch.
19.
Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States
nicht, wenn die Reorganiſation desſelben in Ausſicht bleibt.
Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Auf-
ſtände oder Revolution erſchüttert oder zerſtört werden. Dadurch wird die Perſön-
lichkeit des States nicht aufgehoben, ſo wenig als der Einzelmenſch dieſelbe einbüßt,
wenn der Fieberzuſtand ſeine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit
der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die
Hauptſtadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflöſung der Statsord-
nung zieht aber den Untergang eines States dann nach ſich, wenn die Wiederher-
ſtellung oder die Neugeſtaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als
unmöglich erſcheint. Das iſt nur der Fall, wenn eine barbariſche Raſſe die Zügel
des Stats abwirft, wie in den Negeraufſtänden von St. Domingo 1791 oder wenn
eine ſtatsfeindlich geſinnte Menge, wie die Wiedertäufer im ſechszehnten Jahrhundert
und die Communiſten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.
20.
Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil ſie keine feſten Wohnſitze
und kein eigenes Land haben; aber inſofern ſie als Völker geordnet ſind
und durch ihre Häupter oder ihre Verſammlungen einen gemeinſamen öf-
fentlichen Willen haben, werden ſie den Staten ähnlich behandelt und
können völkerrechtliche Verträge ſchließen. Die allgemein-menſchlichen Pflich-
ten des Völkerrechts liegen auch ſolchen Völkern ob.
Den Wanderſtämmen fehlt es an der Stätigkeit und meiſtens auch an einer
wirkſamen Einheit. Sie ſind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn
ſie ſich dauernd in einem Lande niederlaſſen, wie vormals die Juden in Paläſtina,
die arabiſchen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küſten des Mittel-
meeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oſtrömiſchen Reiche, kön-
nen ſie neue Staten bilden. Aber auch während ſie wandern, ſind die Staaten, in
deren Gebiet oder an deren Grenzen ſie ſich umher treiben, genöthigt, mit ihnen
einzelne Rechtsverhältniſſe durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder ſie zur Be-
achtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den
Menſchenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kir-
giſen zu nöthigen, daß ſie die Pflanzungen der civiliſirten Nationen reſpectiren,
wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.
21.
Dasſelbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bis-
heriges Land verlaſſen, um ein neues Gebiet in Beſitz zu nehmen. Sie
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/86>, abgerufen am 22.12.2024.
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