Erstes Buch. Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
1.
Völkerrecht ist die anerkannte Weltordnung, welche die verschiedenen Staten zu einer menschlichen Rechtsgenossenschaft verbindet, und auch den Angehörigen der verschiedenen Staten einen gemeinsamen Rechtsschutz ge- währt für ihre allgemein menschlichen Rechte.
1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der "Er- kenntniß" derselben. Diese kann bloße Theorie sein, jene bedeutet zugleich die Be- währung derselben im Völkerleben. Das Wissen allein bildet noch kein Recht; erst wenn die Macht des Rechtsbewußtseins sich in der Praxis offenbart, ist eine Rechts- ordnung da.
2. Zunächst ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander. Sein Hauptinhalt ist öffentliches Recht. Insofern kann es auch, von den ein- zelnen Staten aus betrachtet, "äußeres Statsrecht" genannt werden. Der Name ist aber ungenau, weil das Völkerrecht von wesentlich universeller Natur, weil es das Recht der Menschheit ist. Schon Hugo Grotius hat das erkannt. Prol. 17: "Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt, ita inter civitates aut omnes aut plerasque ex consensu jura quaedam nasci potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur". Da- neben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirksamen und unter den Schutz der civilisirten Welt gestellten Rechtsverhältnisse der Privatpersonen, und heißt insofern "internationales Recht" im engern Sinn. Diese zweite Be- deutung des Völkerrechts ist aber noch weniger entwickelt als die erste und gewährt
Erſtes Buch. Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
1.
Völkerrecht iſt die anerkannte Weltordnung, welche die verſchiedenen Staten zu einer menſchlichen Rechtsgenoſſenſchaft verbindet, und auch den Angehörigen der verſchiedenen Staten einen gemeinſamen Rechtsſchutz ge- währt für ihre allgemein menſchlichen Rechte.
1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der „Er- kenntniß“ derſelben. Dieſe kann bloße Theorie ſein, jene bedeutet zugleich die Be- währung derſelben im Völkerleben. Das Wiſſen allein bildet noch kein Recht; erſt wenn die Macht des Rechtsbewußtſeins ſich in der Praxis offenbart, iſt eine Rechts- ordnung da.
2. Zunächſt ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander. Sein Hauptinhalt iſt öffentliches Recht. Inſofern kann es auch, von den ein- zelnen Staten aus betrachtet, „äußeres Statsrecht“ genannt werden. Der Name iſt aber ungenau, weil das Völkerrecht von weſentlich univerſeller Natur, weil es das Recht der Menſchheit iſt. Schon Hugo Grotius hat das erkannt. Prol. 17: „Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt, ita inter civitates aut omnes aut plerasque ex consensu jura quaedam nasci potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur“. Da- neben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirkſamen und unter den Schutz der civiliſirten Welt geſtellten Rechtsverhältniſſe der Privatperſonen, und heißt inſofern „internationales Recht“ im engern Sinn. Dieſe zweite Be- deutung des Völkerrechts iſt aber noch weniger entwickelt als die erſte und gewährt
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[[53]/0075]
Erſtes Buch.
Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
1.
Völkerrecht iſt die anerkannte Weltordnung, welche die verſchiedenen
Staten zu einer menſchlichen Rechtsgenoſſenſchaft verbindet, und auch den
Angehörigen der verſchiedenen Staten einen gemeinſamen Rechtsſchutz ge-
währt für ihre allgemein menſchlichen Rechte.
1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der „Er-
kenntniß“ derſelben. Dieſe kann bloße Theorie ſein, jene bedeutet zugleich die Be-
währung derſelben im Völkerleben. Das Wiſſen allein bildet noch kein Recht; erſt
wenn die Macht des Rechtsbewußtſeins ſich in der Praxis offenbart, iſt eine Rechts-
ordnung da.
2. Zunächſt ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander.
Sein Hauptinhalt iſt öffentliches Recht. Inſofern kann es auch, von den ein-
zelnen Staten aus betrachtet, „äußeres Statsrecht“ genannt werden. Der
Name iſt aber ungenau, weil das Völkerrecht von weſentlich univerſeller Natur,
weil es das Recht der Menſchheit iſt. Schon Hugo Grotius hat das erkannt.
Prol. 17: „Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt,
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potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum
sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur“. Da-
neben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirkſamen und unter
den Schutz der civiliſirten Welt geſtellten Rechtsverhältniſſe der Privatperſonen, und
heißt inſofern „internationales Recht“ im engern Sinn. Dieſe zweite Be-
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. [53]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/75>, abgerufen am 21.11.2024.
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