Die neutrale Flagge schützt nicht bloß das neutrale Schiff, sondern ebenso die feindliche Ladung desselben, mit Ausnahme der Kriegscontre- bande. Frei Schiff, frei Gut.
Der Satz, daß die neutrale Flagge, d. h. die Neutralität und Natio- nalität des Schiffs zugleich die Ladung decke, obwohl diese Kaufleuten der feindlichen Nation angehört, wurde zum ersten Mal in einem Holländischen Vertrage mit Spanien im Jahr 1650 ausgesprochen und erhielt zuerst eine allge- meinere Vertretung in den Grundsätzen, welche die bewaffnete Neutralität vom Jahre 1780 während des englisch-französischen Kriegs, auf die Anregung des Russischen Cabinettes proclamirte. Die frühere Praxis der Seemächte (besonders Englands) hatte das feindliche Gut auf neutralem Schiffe mit Wegnahme bedroht, oder gar (wie zuweilen Frankreich) das neutrale Schiff selber in die Gefahr der Wegnahme gebracht, wenn und weil dasselbe feindliche Waare führe. Indessen ge- langte jener Satz damals noch nicht zu allgemeiner Anerkennung. Besonders Eng- land hielt die frühere Praxis fest, und selbst die Gerichte der Vereinigten Staten betrachteten diese als unanfechtbar, solange nicht durch Verträge ein anderes und allerdings besseres Recht hergestellt sei. Die Statenverträge darüber waren sehr ver- schiedenartig, wodurch natürlich die Rechtsverwirrung vermehrt ward. So z. B. hatten England und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1794 den Grund- satz anerkannt, daß das neutrale Schiff frei, aber die feindliche Waare darauf Gegen- stand der Confiscation sei; während dieselben Vereinigten Staten in einem Vertrag mit Frankreich von 1778, und einem solchen mit Preußen von 1785 die Regel: Frei Schiff, frei Gut bekräftigt hatten. Im Jahr 1799 fanden darüder wieder aus- führliche Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staten und Preußen Statt und nur dem zähen Festhalten Preußens gelang es schließlich, das freiere Princip neuer- dings in dem Vertrag von 1799 zu bestätigen. (Vgl. darüber WheatonInt. L. § 456--469). Erst der Pariser Congreß von 1856 hat endlich dieses Princip zu einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsatz erhoben, am 12. Juni: "Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie a l'exception de la contrebande de guerre". Das neutrale Schiff ist neutrales Gebiet. So wenig feindliches Gut in neutralem Land vom Feinde als Beute betrachtet werden darf, so wenig nun auch auf neutralem Schiffe. Die Anerkennung dieses Grundsatzes ist unzweifelhaft ein Fortschritt der Civilisation und eine wichtige Beschränkung des an sich barbarischen Rechts der Seebeute.
795.
Die neutralen Güter sind auch auf feindlichen Schiffen vor der Wegnahme geschützt, außer wenn sie in Kriegscontrebande bestehn. Unfrei Schiff, frei Gut.
Neuntes Buch.
794.
Die neutrale Flagge ſchützt nicht bloß das neutrale Schiff, ſondern ebenſo die feindliche Ladung desſelben, mit Ausnahme der Kriegscontre- bande. Frei Schiff, frei Gut.
Der Satz, daß die neutrale Flagge, d. h. die Neutralität und Natio- nalität des Schiffs zugleich die Ladung decke, obwohl dieſe Kaufleuten der feindlichen Nation angehört, wurde zum erſten Mal in einem Holländiſchen Vertrage mit Spanien im Jahr 1650 ausgeſprochen und erhielt zuerſt eine allge- meinere Vertretung in den Grundſätzen, welche die bewaffnete Neutralität vom Jahre 1780 während des engliſch-franzöſiſchen Kriegs, auf die Anregung des Ruſſiſchen Cabinettes proclamirte. Die frühere Praxis der Seemächte (beſonders Englands) hatte das feindliche Gut auf neutralem Schiffe mit Wegnahme bedroht, oder gar (wie zuweilen Frankreich) das neutrale Schiff ſelber in die Gefahr der Wegnahme gebracht, wenn und weil dasſelbe feindliche Waare führe. Indeſſen ge- langte jener Satz damals noch nicht zu allgemeiner Anerkennung. Beſonders Eng- land hielt die frühere Praxis feſt, und ſelbſt die Gerichte der Vereinigten Staten betrachteten dieſe als unanfechtbar, ſolange nicht durch Verträge ein anderes und allerdings beſſeres Recht hergeſtellt ſei. Die Statenverträge darüber waren ſehr ver- ſchiedenartig, wodurch natürlich die Rechtsverwirrung vermehrt ward. So z. B. hatten England und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1794 den Grund- ſatz anerkannt, daß das neutrale Schiff frei, aber die feindliche Waare darauf Gegen- ſtand der Confiscation ſei; während dieſelben Vereinigten Staten in einem Vertrag mit Frankreich von 1778, und einem ſolchen mit Preußen von 1785 die Regel: Frei Schiff, frei Gut bekräftigt hatten. Im Jahr 1799 fanden darüder wieder aus- führliche Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten und Preußen Statt und nur dem zähen Feſthalten Preußens gelang es ſchließlich, das freiere Princip neuer- dings in dem Vertrag von 1799 zu beſtätigen. (Vgl. darüber WheatonInt. L. § 456—469). Erſt der Pariſer Congreß von 1856 hat endlich dieſes Princip zu einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundſatz erhoben, am 12. Juni: „Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie à l’exception de la contrebande de guerre“. Das neutrale Schiff iſt neutrales Gebiet. So wenig feindliches Gut in neutralem Land vom Feinde als Beute betrachtet werden darf, ſo wenig nun auch auf neutralem Schiffe. Die Anerkennung dieſes Grundſatzes iſt unzweifelhaft ein Fortſchritt der Civiliſation und eine wichtige Beſchränkung des an ſich barbariſchen Rechts der Seebeute.
795.
Die neutralen Güter ſind auch auf feindlichen Schiffen vor der Wegnahme geſchützt, außer wenn ſie in Kriegscontrebande beſtehn. Unfrei Schiff, frei Gut.
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Neuntes Buch.
794.
Die neutrale Flagge ſchützt nicht bloß das neutrale Schiff, ſondern
ebenſo die feindliche Ladung desſelben, mit Ausnahme der Kriegscontre-
bande. Frei Schiff, frei Gut.
Der Satz, daß die neutrale Flagge, d. h. die Neutralität und Natio-
nalität des Schiffs zugleich die Ladung decke, obwohl dieſe Kaufleuten der
feindlichen Nation angehört, wurde zum erſten Mal in einem Holländiſchen
Vertrage mit Spanien im Jahr 1650 ausgeſprochen und erhielt zuerſt eine allge-
meinere Vertretung in den Grundſätzen, welche die bewaffnete Neutralität
vom Jahre 1780 während des engliſch-franzöſiſchen Kriegs, auf die Anregung des
Ruſſiſchen Cabinettes proclamirte. Die frühere Praxis der Seemächte (beſonders
Englands) hatte das feindliche Gut auf neutralem Schiffe mit Wegnahme bedroht,
oder gar (wie zuweilen Frankreich) das neutrale Schiff ſelber in die Gefahr der
Wegnahme gebracht, wenn und weil dasſelbe feindliche Waare führe. Indeſſen ge-
langte jener Satz damals noch nicht zu allgemeiner Anerkennung. Beſonders Eng-
land hielt die frühere Praxis feſt, und ſelbſt die Gerichte der Vereinigten Staten
betrachteten dieſe als unanfechtbar, ſolange nicht durch Verträge ein anderes und
allerdings beſſeres Recht hergeſtellt ſei. Die Statenverträge darüber waren ſehr ver-
ſchiedenartig, wodurch natürlich die Rechtsverwirrung vermehrt ward. So z. B.
hatten England und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1794 den Grund-
ſatz anerkannt, daß das neutrale Schiff frei, aber die feindliche Waare darauf Gegen-
ſtand der Confiscation ſei; während dieſelben Vereinigten Staten in einem Vertrag
mit Frankreich von 1778, und einem ſolchen mit Preußen von 1785 die Regel:
Frei Schiff, frei Gut bekräftigt hatten. Im Jahr 1799 fanden darüder wieder aus-
führliche Verhandlungen zwiſchen den Vereinigten Staten und Preußen Statt und
nur dem zähen Feſthalten Preußens gelang es ſchließlich, das freiere Princip neuer-
dings in dem Vertrag von 1799 zu beſtätigen. (Vgl. darüber Wheaton Int. L.
§ 456—469). Erſt der Pariſer Congreß von 1856 hat endlich dieſes Princip
zu einem allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundſatz erhoben, am 12. Juni:
„Le pavillon neutre couvre la marchandise ennemie à l’exception de la
contrebande de guerre“. Das neutrale Schiff iſt neutrales Gebiet. So wenig
feindliches Gut in neutralem Land vom Feinde als Beute betrachtet werden darf, ſo
wenig nun auch auf neutralem Schiffe. Die Anerkennung dieſes Grundſatzes iſt
unzweifelhaft ein Fortſchritt der Civiliſation und eine wichtige Beſchränkung des an
ſich barbariſchen Rechts der Seebeute.
795.
Die neutralen Güter ſind auch auf feindlichen Schiffen vor der
Wegnahme geſchützt, außer wenn ſie in Kriegscontrebande beſtehn. Unfrei
Schiff, frei Gut.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/450>, abgerufen am 21.11.2024.
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