preußischen Neutralität, und ebenso der bewilligte Durchmarsch der Alliirten über schweizerisches Gebiet nach Frankreich im Jahr 1814 ein Aufgeben der schweizerischen Neutralität.
771.
Wenn jedoch eine Verfassungspflicht oder eine Statsdienstbarkeit oder eine ohne Rücksicht auf einen bevorstehenden Krieg begründete Vertrags- pflicht des neutralen States besteht, den Durchzug von Truppen einem andern State zu gestatten, der nun Kriegspartei ist, so ist die gemessene Erfüllung dieser Pflicht nicht als Unterstützung dieser Kriegspartei zu be- trachten und es liegt darin keine Verletzung der Neutralitätspflicht.
Die Verfassungspflicht kann vorzüglich in zusammengesetzten Staten die Einzelstaten nöthigen, daß sie die Truppen ihrer Bundesgenossen über ihr Gebiet marschiren lassen, wie das z. B. den Rheinbundsstaten im Jahr 1806 zur Pflicht gemacht war. Ebenso können einem State Etappenstraßen im Frieden und im Krieg geöffnet sein. Ein Beispiel einer vertragsmäßigen Gestattung des Truppendurchzugs bestand früher zu Gunsten des Großherzogthums Baden gegenüber der Schweiz auf der Eisenbahn von Constanz über Basel. Da manche Straßen und Eisenbahnen die Grenzen verschiedener Statsgebiete abwechselnd durch- schneiden, so ist in manchen Fällen ein wechselseitiges Zugeständniß der Benutzung derselben auch für Truppentransporte durch die örtlichen Verhältnisse motivirt, ohne daß man daraus irgendwie auf Kriegshülfe zu schließen berechtigt ist.
772.
Die Durchfahrt der Kriegsschiffe durch das neutrale Küstengewässer gilt nur insofern als Verletzung der Neutralität, als der neutrale Stat dieselbe den kriegführenden Mächten untersagt hat.
Der Grund liegt darin, daß der flüssige Küstensaum nur in beschränktem Sinne der Statshoheit des Uferstats unterworfen, als Bestandtheil des Meeres aber der freien Schiffahrt aller Völker offen ist. Daher ist es auch nicht eine abso- lute Pflicht des neutralen States, diese Durchfahrt zu verhindern; aber er kann sie verhindern, weil er vom Ufer aus den Küstensaum beherrscht. Die fremden Schiff- fahrer sind verpflichtet, sich seinen policeilichen und militärischen Vorsichtsmaßregeln auf diesem Gebiete zu fügen. Vgl. oben § 309. 310. WheatonInt. Law. § 432.
773.
In die Eigengewässer (Seehäfen) aber darf der neutrale Stat die
Bluntschli, Das Völkerrecht. 27
Recht der Neutralität.
preußiſchen Neutralität, und ebenſo der bewilligte Durchmarſch der Alliirten über ſchweizeriſches Gebiet nach Frankreich im Jahr 1814 ein Aufgeben der ſchweizeriſchen Neutralität.
771.
Wenn jedoch eine Verfaſſungspflicht oder eine Statsdienſtbarkeit oder eine ohne Rückſicht auf einen bevorſtehenden Krieg begründete Vertrags- pflicht des neutralen States beſteht, den Durchzug von Truppen einem andern State zu geſtatten, der nun Kriegspartei iſt, ſo iſt die gemeſſene Erfüllung dieſer Pflicht nicht als Unterſtützung dieſer Kriegspartei zu be- trachten und es liegt darin keine Verletzung der Neutralitätspflicht.
Die Verfaſſungspflicht kann vorzüglich in zuſammengeſetzten Staten die Einzelſtaten nöthigen, daß ſie die Truppen ihrer Bundesgenoſſen über ihr Gebiet marſchiren laſſen, wie das z. B. den Rheinbundsſtaten im Jahr 1806 zur Pflicht gemacht war. Ebenſo können einem State Etappenſtraßen im Frieden und im Krieg geöffnet ſein. Ein Beiſpiel einer vertragsmäßigen Geſtattung des Truppendurchzugs beſtand früher zu Gunſten des Großherzogthums Baden gegenüber der Schweiz auf der Eiſenbahn von Conſtanz über Baſel. Da manche Straßen und Eiſenbahnen die Grenzen verſchiedener Statsgebiete abwechſelnd durch- ſchneiden, ſo iſt in manchen Fällen ein wechſelſeitiges Zugeſtändniß der Benutzung derſelben auch für Truppentransporte durch die örtlichen Verhältniſſe motivirt, ohne daß man daraus irgendwie auf Kriegshülfe zu ſchließen berechtigt iſt.
772.
Die Durchfahrt der Kriegsſchiffe durch das neutrale Küſtengewäſſer gilt nur inſofern als Verletzung der Neutralität, als der neutrale Stat dieſelbe den kriegführenden Mächten unterſagt hat.
Der Grund liegt darin, daß der flüſſige Küſtenſaum nur in beſchränktem Sinne der Statshoheit des Uferſtats unterworfen, als Beſtandtheil des Meeres aber der freien Schiffahrt aller Völker offen iſt. Daher iſt es auch nicht eine abſo- lute Pflicht des neutralen States, dieſe Durchfahrt zu verhindern; aber er kann ſie verhindern, weil er vom Ufer aus den Küſtenſaum beherrſcht. Die fremden Schiff- fahrer ſind verpflichtet, ſich ſeinen policeilichen und militäriſchen Vorſichtsmaßregeln auf dieſem Gebiete zu fügen. Vgl. oben § 309. 310. WheatonInt. Law. § 432.
773.
In die Eigengewäſſer (Seehäfen) aber darf der neutrale Stat die
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 27
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Recht der Neutralität.
preußiſchen Neutralität, und ebenſo der bewilligte Durchmarſch der Alliirten über
ſchweizeriſches Gebiet nach Frankreich im Jahr 1814 ein Aufgeben der ſchweizeriſchen
Neutralität.
771.
Wenn jedoch eine Verfaſſungspflicht oder eine Statsdienſtbarkeit oder
eine ohne Rückſicht auf einen bevorſtehenden Krieg begründete Vertrags-
pflicht des neutralen States beſteht, den Durchzug von Truppen einem
andern State zu geſtatten, der nun Kriegspartei iſt, ſo iſt die gemeſſene
Erfüllung dieſer Pflicht nicht als Unterſtützung dieſer Kriegspartei zu be-
trachten und es liegt darin keine Verletzung der Neutralitätspflicht.
Die Verfaſſungspflicht kann vorzüglich in zuſammengeſetzten Staten
die Einzelſtaten nöthigen, daß ſie die Truppen ihrer Bundesgenoſſen über ihr Gebiet
marſchiren laſſen, wie das z. B. den Rheinbundsſtaten im Jahr 1806 zur
Pflicht gemacht war. Ebenſo können einem State Etappenſtraßen im Frieden
und im Krieg geöffnet ſein. Ein Beiſpiel einer vertragsmäßigen Geſtattung
des Truppendurchzugs beſtand früher zu Gunſten des Großherzogthums Baden
gegenüber der Schweiz auf der Eiſenbahn von Conſtanz über Baſel. Da manche
Straßen und Eiſenbahnen die Grenzen verſchiedener Statsgebiete abwechſelnd durch-
ſchneiden, ſo iſt in manchen Fällen ein wechſelſeitiges Zugeſtändniß der Benutzung
derſelben auch für Truppentransporte durch die örtlichen Verhältniſſe motivirt, ohne
daß man daraus irgendwie auf Kriegshülfe zu ſchließen berechtigt iſt.
772.
Die Durchfahrt der Kriegsſchiffe durch das neutrale Küſtengewäſſer
gilt nur inſofern als Verletzung der Neutralität, als der neutrale Stat
dieſelbe den kriegführenden Mächten unterſagt hat.
Der Grund liegt darin, daß der flüſſige Küſtenſaum nur in beſchränktem
Sinne der Statshoheit des Uferſtats unterworfen, als Beſtandtheil des Meeres
aber der freien Schiffahrt aller Völker offen iſt. Daher iſt es auch nicht eine abſo-
lute Pflicht des neutralen States, dieſe Durchfahrt zu verhindern; aber er kann ſie
verhindern, weil er vom Ufer aus den Küſtenſaum beherrſcht. Die fremden Schiff-
fahrer ſind verpflichtet, ſich ſeinen policeilichen und militäriſchen Vorſichtsmaßregeln
auf dieſem Gebiete zu fügen. Vgl. oben § 309. 310. Wheaton Int. Law.
§ 432.
773.
In die Eigengewäſſer (Seehäfen) aber darf der neutrale Stat die
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 27
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/439>, abgerufen am 22.02.2025.
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