Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und selbst von Kriegsleuten verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den civilisirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entschuldigt werden, sondern als gemeine Verbrechen strafbar sind, die Rechtsverfolgung gegen seine Angehörigen gestattet, findet jene Amnestie keine Anwendung.
In der Praxis wird die Amnestie oft in weiterem Umfange gewährt, als sich durch die Rücksicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es besteht kein Rechts- grund, weßhalb gemeiner Diebstahl, eine Brandstiftung aus bloßer Privatrache oder Bosheit ungestraft bleiben sollten, wenn der Stat, dem die Verbrecher ange- hören, anerkennt, daß diese Verbrechen sich auch durch die Parteileidenschaften im Krieg gar nicht entschuldigen lassen und ihre Verfolgung und Bestrafung in keiner Weise den Frieden gefährde. Die übermäßige Ausdehnung der Amnestie erklärt sich theilweise aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Ansicht, daß der Krieg alles Recht der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den sogenannten Urzustand der Rechtlosigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht aner- kennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, sollte es wirksamer als bisher für Bestrafung gemeiner Verbrechen sorgen, damit die Privatpersonen bessern Schutz für ihre persönlichen und Vermögensrechte erhalten.
713.
Die Amnestie bezieht sich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem Kriege verübt worden sind und mit der Kriegsursache in keiner Beziehung stehen, ebenso wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider einander verübt worden sind.
1. In den erstern Fällen gereicht weder die feindliche Erregtheit den Thätern zu einiger Entschuldigung, noch kommt die Rücksicht auf den Frieden den- selben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder Mörders wegen des Krieges eingestellt werden mußte, so kann dieselbe nach dem Friedensschluß wieder erneuert werden.
2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umstand zu Statten, daß sie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der neutrale Stat, welcher keine Gewaltthat auf seinem Gebiete duldet, wird dieselben dennoch mit Recht, trotz der Amnestie verfolgen, weil sie seine Friedensordnung mißachtet haben.
25*
Das Kriegsrecht.
712.
Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und ſelbſt von Kriegsleuten verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den civiliſirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entſchuldigt werden, ſondern als gemeine Verbrechen ſtrafbar ſind, die Rechtsverfolgung gegen ſeine Angehörigen geſtattet, findet jene Amneſtie keine Anwendung.
In der Praxis wird die Amneſtie oft in weiterem Umfange gewährt, als ſich durch die Rückſicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es beſteht kein Rechts- grund, weßhalb gemeiner Diebſtahl, eine Brandſtiftung aus bloßer Privatrache oder Bosheit ungeſtraft bleiben ſollten, wenn der Stat, dem die Verbrecher ange- hören, anerkennt, daß dieſe Verbrechen ſich auch durch die Parteileidenſchaften im Krieg gar nicht entſchuldigen laſſen und ihre Verfolgung und Beſtrafung in keiner Weiſe den Frieden gefährde. Die übermäßige Ausdehnung der Amneſtie erklärt ſich theilweiſe aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Anſicht, daß der Krieg alles Recht der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den ſogenannten Urzuſtand der Rechtloſigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht aner- kennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, ſollte es wirkſamer als bisher für Beſtrafung gemeiner Verbrechen ſorgen, damit die Privatperſonen beſſern Schutz für ihre perſönlichen und Vermögensrechte erhalten.
713.
Die Amneſtie bezieht ſich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem Kriege verübt worden ſind und mit der Kriegsurſache in keiner Beziehung ſtehen, ebenſo wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider einander verübt worden ſind.
1. In den erſtern Fällen gereicht weder die feindliche Erregtheit den Thätern zu einiger Entſchuldigung, noch kommt die Rückſicht auf den Frieden den- ſelben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder Mörders wegen des Krieges eingeſtellt werden mußte, ſo kann dieſelbe nach dem Friedensſchluß wieder erneuert werden.
2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umſtand zu Statten, daß ſie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der neutrale Stat, welcher keine Gewaltthat auf ſeinem Gebiete duldet, wird dieſelben dennoch mit Recht, trotz der Amneſtie verfolgen, weil ſie ſeine Friedensordnung mißachtet haben.
25*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0409"n="387"/><fwplace="top"type="header">Das Kriegsrecht.</fw><lb/><divn="4"><head>712.</head><lb/><p>Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und ſelbſt von Kriegsleuten<lb/>
verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den<lb/>
civiliſirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entſchuldigt werden, ſondern<lb/>
als gemeine Verbrechen ſtrafbar ſind, die Rechtsverfolgung gegen ſeine<lb/>
Angehörigen geſtattet, findet jene Amneſtie keine Anwendung.</p><lb/><p>In der Praxis wird die Amneſtie oft in weiterem Umfange gewährt, als ſich<lb/>
durch die Rückſicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es beſteht <hirendition="#g">kein Rechts-<lb/>
grund</hi>, weßhalb gemeiner Diebſtahl, eine Brandſtiftung aus bloßer Privatrache<lb/>
oder Bosheit ungeſtraft bleiben ſollten, wenn der <hirendition="#g">Stat</hi>, dem die Verbrecher ange-<lb/>
hören, anerkennt, daß dieſe Verbrechen ſich auch durch die Parteileidenſchaften im<lb/>
Krieg gar nicht entſchuldigen laſſen und ihre Verfolgung und Beſtrafung <hirendition="#g">in keiner<lb/>
Weiſe den Frieden gefährde</hi>. Die übermäßige Ausdehnung der Amneſtie<lb/>
erklärt ſich theilweiſe aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Anſicht, daß<lb/>
der Krieg <hirendition="#g">alles Recht</hi> der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den<lb/>ſogenannten Urzuſtand der Rechtloſigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht aner-<lb/>
kennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, ſollte es wirkſamer als bisher für<lb/>
Beſtrafung gemeiner Verbrechen ſorgen, damit die Privatperſonen beſſern Schutz für<lb/>
ihre perſönlichen und Vermögensrechte erhalten.</p></div><lb/><divn="4"><head>713.</head><lb/><p>Die Amneſtie bezieht ſich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem<lb/>
Kriege verübt worden ſind und mit der Kriegsurſache in keiner Beziehung<lb/>ſtehen, ebenſo wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs<lb/>
auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider<lb/>
einander verübt worden ſind.</p><lb/><p>1. In den erſtern Fällen gereicht weder die <hirendition="#g">feindliche Erregtheit</hi> den<lb/>
Thätern zu einiger Entſchuldigung, noch kommt die Rückſicht auf den Frieden den-<lb/>ſelben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder<lb/>
Mörders wegen des Krieges eingeſtellt werden mußte, ſo kann dieſelbe nach dem<lb/>
Friedensſchluß wieder erneuert werden.</p><lb/><p>2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umſtand<lb/>
zu Statten, daß ſie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der <hirendition="#g">neutrale<lb/>
Stat</hi>, welcher keine Gewaltthat auf ſeinem Gebiete duldet, wird dieſelben dennoch<lb/>
mit Recht, trotz der Amneſtie verfolgen, weil ſie ſeine Friedensordnung mißachtet<lb/>
haben.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig">25*</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[387/0409]
Das Kriegsrecht.
712.
Soweit jedoch der Stat wegen im Krieg und ſelbſt von Kriegsleuten
verübter Verletzungen, die weder durch das Kriegsrecht noch durch den
civiliſirten Kriegsgebrauch gerechtfertigt oder entſchuldigt werden, ſondern
als gemeine Verbrechen ſtrafbar ſind, die Rechtsverfolgung gegen ſeine
Angehörigen geſtattet, findet jene Amneſtie keine Anwendung.
In der Praxis wird die Amneſtie oft in weiterem Umfange gewährt, als ſich
durch die Rückſicht auf ihre Gründe rechtfertigen läßt. Es beſteht kein Rechts-
grund, weßhalb gemeiner Diebſtahl, eine Brandſtiftung aus bloßer Privatrache
oder Bosheit ungeſtraft bleiben ſollten, wenn der Stat, dem die Verbrecher ange-
hören, anerkennt, daß dieſe Verbrechen ſich auch durch die Parteileidenſchaften im
Krieg gar nicht entſchuldigen laſſen und ihre Verfolgung und Beſtrafung in keiner
Weiſe den Frieden gefährde. Die übermäßige Ausdehnung der Amneſtie
erklärt ſich theilweiſe aus der älteren, nun als irrthümlich erkannten Anſicht, daß
der Krieg alles Recht der feindlichen Nation verneine, und eine Rückkehr in den
ſogenannten Urzuſtand der Rechtloſigkeit begründe. Seitdem das Völkerrecht aner-
kennt, daß auch im Kriege das Recht fortdauere, ſollte es wirkſamer als bisher für
Beſtrafung gemeiner Verbrechen ſorgen, damit die Privatperſonen beſſern Schutz für
ihre perſönlichen und Vermögensrechte erhalten.
713.
Die Amneſtie bezieht ſich nicht auf Rechtsverletzungen, die vor dem
Kriege verübt worden ſind und mit der Kriegsurſache in keiner Beziehung
ſtehen, ebenſo wenig auf Rechtsverletzungen, welche während des Kriegs
auf neutralem Gebiete von Angehörigen der kriegführenden Staten wider
einander verübt worden ſind.
1. In den erſtern Fällen gereicht weder die feindliche Erregtheit den
Thätern zu einiger Entſchuldigung, noch kommt die Rückſicht auf den Frieden den-
ſelben zu Statten. Wenn z. B. die Verfolgung eines Diebes oder Betrügers oder
Mörders wegen des Krieges eingeſtellt werden mußte, ſo kann dieſelbe nach dem
Friedensſchluß wieder erneuert werden.
2. In den zweiten Fällen kommt zwar den Thätern der mildernde Umſtand
zu Statten, daß ſie vielleicht aus Parteieifer gehandelt haben; aber der neutrale
Stat, welcher keine Gewaltthat auf ſeinem Gebiete duldet, wird dieſelben dennoch
mit Recht, trotz der Amneſtie verfolgen, weil ſie ſeine Friedensordnung mißachtet
haben.
25*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/409>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.