Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geschichtlicher Ereignisse niemals vergessen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht und als brutale Gewalt erscheint, das stellt sich der tieferen Erkenntniß in manchen Fällen als unwiderstehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver- hältnisse und als unaufhaltsamer Drang berechtigten Volkslebens dar, welches die abgestorbenen Formen des veralteten Rechts abstößt, wie die jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abstoßen. Wo aber das wirklich der Fall ist, da ist die Gewalt in Wahrheit nur der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient dann der Rechtsbildung, sie beherrscht dieselbe nicht.
Die Mängel also des Völkerrechts sind groß, aber nicht so groß, um dessen Existenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen, aber es hat schon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche seiner Geltung im Wege stehen. Man vergleiche die Rechtszustände der heutigen Statenwelt mit den Zuständen der früheren Zeitalter und man wird durch diese Vergleichung der großen und segensreichen Fortschritte ge- wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und fortwährend macht. Darin ersehen wir eine Bürgschaft für die weiteren Fortschritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und sichert die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Halten wir Ueber- schau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.
Anfänge des Völkerrechts.
1. Im Alterthum.
Einzelne Keime des Völkerrechts sind zu allen Zeiten unter allen Völkern sichtbar geworden. Selbst unter wilden und barbarischen Stämmen finden wir fast überall eine gewisse, meistens religiöse Scheu, die Gesandten anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gastrechts und die Uebung, Bündnisse und andere Verträge abzuschließen, den Krieg durch den erklärten Frieden zu beendigen.
Bei den civilisirten alten Völkern Asiens, wie besonders bei den alten Indiern mehren und entwickeln sich theilweise die Ansätze und Triebe zu völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber selbst die hochgebildeten Hellenen, obwohl sie zuerst den Stat menschlich begriffen haben, sind doch nur in dem eng begränzten Verhältniß der hellenischen Staten zu einander zu einem noch sehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinschaft der Re-
Einleitung.
Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver- hältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar, welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen. Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient dann der Rechtsbildung, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.
Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß, um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen, aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte ge- wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueber- ſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.
Anfänge des Völkerrechts.
1. Im Alterthum.
Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch den erklärten Frieden zu beendigen.
Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten Indiern mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten Hellenen, obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0032"n="10"/><fwplace="top"type="header">Einleitung.</fw><lb/><p>Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe<lb/>
niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht<lb/>
und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß<lb/>
in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver-<lb/>
hältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar,<lb/>
welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die<lb/>
jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen.<lb/>
Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur<lb/>
der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie <hirendition="#g">dient</hi><lb/>
dann der <hirendition="#g">Rechtsbildung</hi>, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.</p><lb/><p>Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß,<lb/>
um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen,<lb/>
aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche<lb/>ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der<lb/>
heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man<lb/>
wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte ge-<lb/>
wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und<lb/>
fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren<lb/>
Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet<lb/>
und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueber-<lb/>ſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.</p></div></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Anfänge des Völkerrechts.</hi></head><lb/><divn="3"><head>1. <hirendition="#g">Im Alterthum</hi>.</head><lb/><p>Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen<lb/>
Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen<lb/>
finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten<lb/>
anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die<lb/>
Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch<lb/>
den erklärten Frieden zu beendigen.</p><lb/><p>Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten<lb/><hirendition="#g">Indiern</hi> mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu<lb/>
völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten <hirendition="#g">Hellenen</hi>,<lb/>
obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in<lb/>
dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu<lb/>
einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[10/0032]
Einleitung.
Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe
niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht
und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß
in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver-
hältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar,
welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die
jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen.
Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur
der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient
dann der Rechtsbildung, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.
Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß,
um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen,
aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche
ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der
heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man
wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte ge-
wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und
fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren
Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet
und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueber-
ſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.
Anfänge des Völkerrechts.
1. Im Alterthum.
Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen
Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen
finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten
anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die
Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch
den erklärten Frieden zu beendigen.
Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten
Indiern mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu
völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten Hellenen,
obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in
dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu
einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/32>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.