Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.
wendung eintreten lassen und auf Beseitigung des Unrechts dringen und sie können nöthigenfalls sich verbünden und mit gemeinsamer Macht vor- gehen, um dem anerkannten Völker- und Menschenrecht Achtung und Gel- tung zu verschaffen.
In manchen Fällen schon hat die Verwendung des diplomatischen Körpers ausgereicht, um eine Verletzung des Völkerrechts zu beseitigen. Zuweilen half die Intercession einer Macht. Aber zuweilen sind auch ernstere Maßregeln nöthig, wie die gemeinsamen Maßregeln, um die Seeräuberei zu bestrafen und zu verhindern, die Sclavenzufuhr zu hemmen, die Rechte der neutralen Staten zu be- haupten, unmenschliche Grausamkeiten zu zügeln. Wiederholt haben die europäischen Mächte in der Türkei intervenirt zum Schutz vorzüglich der christlichen Bevölkerung.
2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention.
474.
Die fremden Staten werden durch das Völkerrecht in der Regel nicht ermächtigt, in die Verfassungsstreitigkeiten eines unabhängigen States sich einzumischen und gegen Statsumwälzungen zu interveniren.
1. Der Schutz der Verfassung eines States und seiner inneren Rechtsordnung ist eine innere Angelegenheit dieses States und nicht Aufgabe des Völkerrechts. Der Sturz einer Regierung, die Entthronung eines Fürsten, die Erhebung eines Usurpators, die Mißachtung verfassungsmäßiger Volksrechte ist ein Bruch des beste- henden Statsrechts, aber an sich nicht eine Verletzung des Völkerrechts, d. h. der Beziehungen eines States zu andern Staten. Deßhalb ist auch in der Regel die Intervention fremder Staten in derartige Verfassungskämpfe und Umge- staltungen ein ungerechtfertigter Eingriff in die statliche Selbständigkeit und eine Gefährdung des allgemeinen Friedens und von dem Völkerrecht gemißbilligt. Die bloße Verwandtschaft der Dynastien oder die Gleichartigkeit der Interessen und Stimmungen rechtfertigt diesen Eingriff in ein fremdes Rechtsgebiet ebensowenig, als die politische Antipathie gegen die Partei, welche durch die Umwälzung zur Herrschaft kommt. Die Solidarität der Interessen muß sich innerhalb des Völkerrechts bewegen, sie darf nicht die völkerrechtliche Selbständigkeit der Staten angreifen und verletzen. (Vgl. oben § 39 f.)
2. Die Praxis der europäischen Staten ist freilich noch nicht in voller Ueberein- stimmung mit diesen natürlichen Rechtsgrundsätzen. Man hat seit hundert Jahren
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
wendung eintreten laſſen und auf Beſeitigung des Unrechts dringen und ſie können nöthigenfalls ſich verbünden und mit gemeinſamer Macht vor- gehen, um dem anerkannten Völker- und Menſchenrecht Achtung und Gel- tung zu verſchaffen.
In manchen Fällen ſchon hat die Verwendung des diplomatiſchen Körpers ausgereicht, um eine Verletzung des Völkerrechts zu beſeitigen. Zuweilen half die Interceſſion einer Macht. Aber zuweilen ſind auch ernſtere Maßregeln nöthig, wie die gemeinſamen Maßregeln, um die Seeräuberei zu beſtrafen und zu verhindern, die Sclavenzufuhr zu hemmen, die Rechte der neutralen Staten zu be- haupten, unmenſchliche Grauſamkeiten zu zügeln. Wiederholt haben die europäiſchen Mächte in der Türkei intervenirt zum Schutz vorzüglich der chriſtlichen Bevölkerung.
2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention.
474.
Die fremden Staten werden durch das Völkerrecht in der Regel nicht ermächtigt, in die Verfaſſungsſtreitigkeiten eines unabhängigen States ſich einzumiſchen und gegen Statsumwälzungen zu interveniren.
1. Der Schutz der Verfaſſung eines States und ſeiner inneren Rechtsordnung iſt eine innere Angelegenheit dieſes States und nicht Aufgabe des Völkerrechts. Der Sturz einer Regierung, die Entthronung eines Fürſten, die Erhebung eines Uſurpators, die Mißachtung verfaſſungsmäßiger Volksrechte iſt ein Bruch des beſte- henden Statsrechts, aber an ſich nicht eine Verletzung des Völkerrechts, d. h. der Beziehungen eines States zu andern Staten. Deßhalb iſt auch in der Regel die Intervention fremder Staten in derartige Verfaſſungskämpfe und Umge- ſtaltungen ein ungerechtfertigter Eingriff in die ſtatliche Selbſtändigkeit und eine Gefährdung des allgemeinen Friedens und von dem Völkerrecht gemißbilligt. Die bloße Verwandtſchaft der Dynaſtien oder die Gleichartigkeit der Intereſſen und Stimmungen rechtfertigt dieſen Eingriff in ein fremdes Rechtsgebiet ebenſowenig, als die politiſche Antipathie gegen die Partei, welche durch die Umwälzung zur Herrſchaft kommt. Die Solidarität der Intereſſen muß ſich innerhalb des Völkerrechts bewegen, ſie darf nicht die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der Staten angreifen und verletzen. (Vgl. oben § 39 f.)
2. Die Praxis der europäiſchen Staten iſt freilich noch nicht in voller Ueberein- ſtimmung mit dieſen natürlichen Rechtsgrundſätzen. Man hat ſeit hundert Jahren
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
wendung eintreten laſſen und auf Beſeitigung des Unrechts dringen und
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gehen, um dem anerkannten Völker- und Menſchenrecht Achtung und Gel-
tung zu verſchaffen.
In manchen Fällen ſchon hat die Verwendung des diplomatiſchen
Körpers ausgereicht, um eine Verletzung des Völkerrechts zu beſeitigen. Zuweilen
half die Interceſſion einer Macht. Aber zuweilen ſind auch ernſtere Maßregeln
nöthig, wie die gemeinſamen Maßregeln, um die Seeräuberei zu beſtrafen und zu
verhindern, die Sclavenzufuhr zu hemmen, die Rechte der neutralen Staten zu be-
haupten, unmenſchliche Grauſamkeiten zu zügeln. Wiederholt haben die europäiſchen
Mächte in der Türkei intervenirt zum Schutz vorzüglich der chriſtlichen Bevölkerung.
2. Bruch der inneren Statsordnung. Intervention.
474.
Die fremden Staten werden durch das Völkerrecht in der Regel
nicht ermächtigt, in die Verfaſſungsſtreitigkeiten eines unabhängigen States
ſich einzumiſchen und gegen Statsumwälzungen zu interveniren.
1. Der Schutz der Verfaſſung eines States und ſeiner inneren Rechtsordnung
iſt eine innere Angelegenheit dieſes States und nicht Aufgabe des Völkerrechts.
Der Sturz einer Regierung, die Entthronung eines Fürſten, die Erhebung eines
Uſurpators, die Mißachtung verfaſſungsmäßiger Volksrechte iſt ein Bruch des beſte-
henden Statsrechts, aber an ſich nicht eine Verletzung des Völkerrechts,
d. h. der Beziehungen eines States zu andern Staten. Deßhalb iſt auch in der
Regel die Intervention fremder Staten in derartige Verfaſſungskämpfe und Umge-
ſtaltungen ein ungerechtfertigter Eingriff in die ſtatliche Selbſtändigkeit und eine
Gefährdung des allgemeinen Friedens und von dem Völkerrecht gemißbilligt. Die
bloße Verwandtſchaft der Dynaſtien oder die Gleichartigkeit der Intereſſen und
Stimmungen rechtfertigt dieſen Eingriff in ein fremdes Rechtsgebiet ebenſowenig,
als die politiſche Antipathie gegen die Partei, welche durch die Umwälzung zur
Herrſchaft kommt. Die Solidarität der Intereſſen muß ſich innerhalb
des Völkerrechts bewegen, ſie darf nicht die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der
Staten angreifen und verletzen. (Vgl. oben § 39 f.)
2. Die Praxis der europäiſchen Staten iſt freilich noch nicht in voller Ueberein-
ſtimmung mit dieſen natürlichen Rechtsgrundſätzen. Man hat ſeit hundert Jahren
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/287>, abgerufen am 22.02.2025.
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