völkerrechtliche Vergehen ein anderes Verfahren vorgeschrieben ist, der ordentlichen Strafjustiz auch in solchen Fällen die Beurtheilung überlassen werden müssen. Der verletzte Stat ist zunächst nicht berechtigt, eine Abweichung von dem ordentlichen Gang der Rechtspflege zu fordern und er muß sich's gefallen lassen, wenn der An- geklagte freigesprochen oder in eine geringere Strafe verurtheilt wird, als er für gerecht hält. Dabei werden aber zwei Dinge immer vorausgesetzt:
1) daß das Landesrecht in Harmonie sei mit dem Völkerrecht und auch den völkerrechtlichen Rechts- und Friedensbruch, wenn er von Privaten verübt wird, mit Strafe bedrohe. Würde die Strafgesetzgebung des Landes nicht dafür sor- gen, d. h. das Völkerrecht nicht anerkennen und nicht beachten, so wäre das unzwei- felhaft dem State zum Vorwurf zu machen, für welchen das Völkerrecht verbind- lich ist, und die andern Staten wären in ihrem vollen Recht, wenn sie die Ergän- zung und Verbesserung der Landesgesetzgebung forderten.
2) Der Stat ist auch dafür verantwortlich, daß die Strafrechtspflege, soweit sie zum Schutz des Völkerrechts dient, bona fide gehandhabt werde. Die bloß formelle Berufung auf ein rechtskräftiges Urtheil sichert zwar immer den frei- gesprochenen oder milde bestraften Angeschuldigten vor weiterer Strafe, aber nicht immer auch den Stat vor jeder weiteren Forderung. Sollte sich zeigen, daß die Richter oder Geschwornen ihre Pflicht, das Völkerrecht zu schützen, nicht geübt, son- dern vielleicht ihren Landsmann oder die politische Partei in ungehöriger Weise begünstigt haben, so ist das statliche Connivenz; denn die Verwaltung der Rechtspflege ist eine statliche Function, für welche der Stat selber völkerrechtlich ein- zustehen hat. Keine Rechtspflege üben oder sie schlecht üben, das ist beides Miß- achtung der völkerrechtlichen Pflicht, welche die Staten verbindet. Dafür wird wieder der Stat verantwortlich gemacht. Eben deßhalb erfordert die Rechtspflege bei völkerrechtlichen Beschwerden eine ganz besondere Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit und ist es ganz zweckmäßig, entweder durch die Gerichtsorganisation selber dafür zu sorgen, daß nur solche Behörden urtheilen, für deren Kenntniß des Völker- rechts und für deren redlichen Willen, dasselbe zu beachten, besondere Garan- tien vorhanden sind, oder doch die ordentlichen Gerichte auf diese schwere Pflicht- übung und die eigenthümliche Gefahr der statlichen Verantwortlichkeit besonders auf- merksam zu machen, beziehungsweise sie anzuweisen, sich mit der Repräsentativ- gewalt des States ins Einvernehmen zu setzen.
468.
Eine völkerrechtliche Verletzung kann auch dadurch verübt werden, daß zwar nicht ein anderer Stat unmittelbar in seinem Rechte gekränkt, sondern dessen Angehörige oder Schutzbefohlene völkerrechtswidrig behandelt werden.
Vgl. oben § 380.
Siebentes Buch.
völkerrechtliche Vergehen ein anderes Verfahren vorgeſchrieben iſt, der ordentlichen Strafjuſtiz auch in ſolchen Fällen die Beurtheilung überlaſſen werden müſſen. Der verletzte Stat iſt zunächſt nicht berechtigt, eine Abweichung von dem ordentlichen Gang der Rechtspflege zu fordern und er muß ſich’s gefallen laſſen, wenn der An- geklagte freigeſprochen oder in eine geringere Strafe verurtheilt wird, als er für gerecht hält. Dabei werden aber zwei Dinge immer vorausgeſetzt:
1) daß das Landesrecht in Harmonie ſei mit dem Völkerrecht und auch den völkerrechtlichen Rechts- und Friedensbruch, wenn er von Privaten verübt wird, mit Strafe bedrohe. Würde die Strafgeſetzgebung des Landes nicht dafür ſor- gen, d. h. das Völkerrecht nicht anerkennen und nicht beachten, ſo wäre das unzwei- felhaft dem State zum Vorwurf zu machen, für welchen das Völkerrecht verbind- lich iſt, und die andern Staten wären in ihrem vollen Recht, wenn ſie die Ergän- zung und Verbeſſerung der Landesgeſetzgebung forderten.
2) Der Stat iſt auch dafür verantwortlich, daß die Strafrechtspflege, ſoweit ſie zum Schutz des Völkerrechts dient, bona fide gehandhabt werde. Die bloß formelle Berufung auf ein rechtskräftiges Urtheil ſichert zwar immer den frei- geſprochenen oder milde beſtraften Angeſchuldigten vor weiterer Strafe, aber nicht immer auch den Stat vor jeder weiteren Forderung. Sollte ſich zeigen, daß die Richter oder Geſchwornen ihre Pflicht, das Völkerrecht zu ſchützen, nicht geübt, ſon- dern vielleicht ihren Landsmann oder die politiſche Partei in ungehöriger Weiſe begünſtigt haben, ſo iſt das ſtatliche Connivenz; denn die Verwaltung der Rechtspflege iſt eine ſtatliche Function, für welche der Stat ſelber völkerrechtlich ein- zuſtehen hat. Keine Rechtspflege üben oder ſie ſchlecht üben, das iſt beides Miß- achtung der völkerrechtlichen Pflicht, welche die Staten verbindet. Dafür wird wieder der Stat verantwortlich gemacht. Eben deßhalb erfordert die Rechtspflege bei völkerrechtlichen Beſchwerden eine ganz beſondere Sorgfalt und Gewiſſenhaftigkeit und iſt es ganz zweckmäßig, entweder durch die Gerichtsorganiſation ſelber dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Behörden urtheilen, für deren Kenntniß des Völker- rechts und für deren redlichen Willen, dasſelbe zu beachten, beſondere Garan- tien vorhanden ſind, oder doch die ordentlichen Gerichte auf dieſe ſchwere Pflicht- übung und die eigenthümliche Gefahr der ſtatlichen Verantwortlichkeit beſonders auf- merkſam zu machen, beziehungsweiſe ſie anzuweiſen, ſich mit der Repräſentativ- gewalt des States ins Einvernehmen zu ſetzen.
468.
Eine völkerrechtliche Verletzung kann auch dadurch verübt werden, daß zwar nicht ein anderer Stat unmittelbar in ſeinem Rechte gekränkt, ſondern deſſen Angehörige oder Schutzbefohlene völkerrechtswidrig behandelt werden.
Vgl. oben § 380.
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Siebentes Buch.
völkerrechtliche Vergehen ein anderes Verfahren vorgeſchrieben iſt, der ordentlichen
Strafjuſtiz auch in ſolchen Fällen die Beurtheilung überlaſſen werden müſſen. Der
verletzte Stat iſt zunächſt nicht berechtigt, eine Abweichung von dem ordentlichen
Gang der Rechtspflege zu fordern und er muß ſich’s gefallen laſſen, wenn der An-
geklagte freigeſprochen oder in eine geringere Strafe verurtheilt wird, als er für
gerecht hält. Dabei werden aber zwei Dinge immer vorausgeſetzt:
1) daß das Landesrecht in Harmonie ſei mit dem Völkerrecht und
auch den völkerrechtlichen Rechts- und Friedensbruch, wenn er von Privaten verübt
wird, mit Strafe bedrohe. Würde die Strafgeſetzgebung des Landes nicht dafür ſor-
gen, d. h. das Völkerrecht nicht anerkennen und nicht beachten, ſo wäre das unzwei-
felhaft dem State zum Vorwurf zu machen, für welchen das Völkerrecht verbind-
lich iſt, und die andern Staten wären in ihrem vollen Recht, wenn ſie die Ergän-
zung und Verbeſſerung der Landesgeſetzgebung forderten.
2) Der Stat iſt auch dafür verantwortlich, daß die Strafrechtspflege, ſoweit
ſie zum Schutz des Völkerrechts dient, bona fide gehandhabt werde. Die
bloß formelle Berufung auf ein rechtskräftiges Urtheil ſichert zwar immer den frei-
geſprochenen oder milde beſtraften Angeſchuldigten vor weiterer Strafe, aber nicht
immer auch den Stat vor jeder weiteren Forderung. Sollte ſich zeigen, daß die
Richter oder Geſchwornen ihre Pflicht, das Völkerrecht zu ſchützen, nicht geübt, ſon-
dern vielleicht ihren Landsmann oder die politiſche Partei in ungehöriger Weiſe
begünſtigt haben, ſo iſt das ſtatliche Connivenz; denn die Verwaltung der
Rechtspflege iſt eine ſtatliche Function, für welche der Stat ſelber völkerrechtlich ein-
zuſtehen hat. Keine Rechtspflege üben oder ſie ſchlecht üben, das iſt beides Miß-
achtung der völkerrechtlichen Pflicht, welche die Staten verbindet. Dafür wird wieder
der Stat verantwortlich gemacht. Eben deßhalb erfordert die Rechtspflege
bei völkerrechtlichen Beſchwerden eine ganz beſondere Sorgfalt und Gewiſſenhaftigkeit
und iſt es ganz zweckmäßig, entweder durch die Gerichtsorganiſation ſelber
dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Behörden urtheilen, für deren Kenntniß des Völker-
rechts und für deren redlichen Willen, dasſelbe zu beachten, beſondere Garan-
tien vorhanden ſind, oder doch die ordentlichen Gerichte auf dieſe ſchwere Pflicht-
übung und die eigenthümliche Gefahr der ſtatlichen Verantwortlichkeit beſonders auf-
merkſam zu machen, beziehungsweiſe ſie anzuweiſen, ſich mit der Repräſentativ-
gewalt des States ins Einvernehmen zu ſetzen.
468.
Eine völkerrechtliche Verletzung kann auch dadurch verübt werden,
daß zwar nicht ein anderer Stat unmittelbar in ſeinem Rechte gekränkt,
ſondern deſſen Angehörige oder Schutzbefohlene völkerrechtswidrig behandelt
werden.
Vgl. oben § 380.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/284>, abgerufen am 22.02.2025.
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