Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Siebentes Buch.
463.

Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder seine Würde miß-
achtet, so ist der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, entsprechende
Genugthuung zu fordern.

Es unterscheidet sich diese Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden
durch den idealen Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfin-
dung des beleidigten Statsbewußtseins. Die Genugthuung geht da-
her auch einen Schritt über die bloße Wiederherstellung hinaus. Sie kann
nach Umständen in der Bestrafung derjenigen Personen bestehen, welche jene Belei-
digung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genug-
thuung kann nicht bloß gewährt, sie kann unter Umständen auch genommen
werden. Die Art derselben wird oft durch die Sitte bestimmt. Unsittliches darf
man nicht verlangen.

464.

Besteht die Verletzung in dem thatsächlichen Eingriff in das Rechts-
gebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Besitzstörung eines andern
States, so ist der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Un-
rechts und Wiederherstellung des gestörten Rechts- oder Besitzstandes bezie-
hungsweise Schadensersatz zu begehren, sondern überdem Genugthuung und
Sühne und je nach Umständen weitere Garantien gegen Erneuerung des
Rechtsbruchs zu fordern.

Der Rechtsbruch ist eine schwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung
und daher eher dem strafbaren Unrecht der Privatpersonen zu vergleichen. Da es
aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, sondern die Selbsthülfe
des Völkerrechts noch auf derselben Stufe sich befindet, wie die alte Rache der in
ihrem Frieden verletzten Barbaren, so muß die Bestimmung der Sühne großen-
theils dem Ermessen des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Ver-
letzer überlassen werden.

465.

Wird der Rechtsbruch bis zu gewaltsamem Friedensbruch gesteigert,
so wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friede-
brechers erweitert.

Zwischen Rechtsbruch und Friedensbruch besteht ein ähnlicher Unter-
schied, wie zwischen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der schwer zu definiren

Siebentes Buch.
463.

Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder ſeine Würde miß-
achtet, ſo iſt der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, entſprechende
Genugthuung zu fordern.

Es unterſcheidet ſich dieſe Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden
durch den idealen Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfin-
dung des beleidigten Statsbewußtſeins. Die Genugthuung geht da-
her auch einen Schritt über die bloße Wiederherſtellung hinaus. Sie kann
nach Umſtänden in der Beſtrafung derjenigen Perſonen beſtehen, welche jene Belei-
digung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genug-
thuung kann nicht bloß gewährt, ſie kann unter Umſtänden auch genommen
werden. Die Art derſelben wird oft durch die Sitte beſtimmt. Unſittliches darf
man nicht verlangen.

464.

Beſteht die Verletzung in dem thatſächlichen Eingriff in das Rechts-
gebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Beſitzſtörung eines andern
States, ſo iſt der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Un-
rechts und Wiederherſtellung des geſtörten Rechts- oder Beſitzſtandes bezie-
hungsweiſe Schadenserſatz zu begehren, ſondern überdem Genugthuung und
Sühne und je nach Umſtänden weitere Garantien gegen Erneuerung des
Rechtsbruchs zu fordern.

Der Rechtsbruch iſt eine ſchwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung
und daher eher dem ſtrafbaren Unrecht der Privatperſonen zu vergleichen. Da es
aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, ſondern die Selbſthülfe
des Völkerrechts noch auf derſelben Stufe ſich befindet, wie die alte Rache der in
ihrem Frieden verletzten Barbaren, ſo muß die Beſtimmung der Sühne großen-
theils dem Ermeſſen des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Ver-
letzer überlaſſen werden.

465.

Wird der Rechtsbruch bis zu gewaltſamem Friedensbruch geſteigert,
ſo wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friede-
brechers erweitert.

Zwiſchen Rechtsbruch und Friedensbruch beſteht ein ähnlicher Unter-
ſchied, wie zwiſchen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der ſchwer zu definiren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0282" n="260"/>
            <fw place="top" type="header">Siebentes Buch.</fw><lb/>
            <div n="4">
              <head>463.</head><lb/>
              <p>Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder &#x017F;eine Würde miß-<lb/>
achtet, &#x017F;o i&#x017F;t der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, ent&#x017F;prechende<lb/>
Genugthuung zu fordern.</p><lb/>
              <p>Es unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich die&#x017F;e Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden<lb/>
durch den <hi rendition="#g">idealen</hi> Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfin-<lb/>
dung des <hi rendition="#g">beleidigten Statsbewußt&#x017F;eins</hi>. Die <hi rendition="#g">Genugthuung</hi> geht da-<lb/>
her auch einen Schritt über die bloße <hi rendition="#g">Wiederher&#x017F;tellung</hi> hinaus. Sie kann<lb/>
nach Um&#x017F;tänden in der <hi rendition="#g">Be&#x017F;trafung</hi> derjenigen Per&#x017F;onen be&#x017F;tehen, welche jene Belei-<lb/>
digung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genug-<lb/>
thuung kann nicht bloß <hi rendition="#g">gewährt</hi>, &#x017F;ie kann unter Um&#x017F;tänden auch <hi rendition="#g">genommen</hi><lb/>
werden. Die Art der&#x017F;elben wird oft durch die Sitte be&#x017F;timmt. Un&#x017F;ittliches darf<lb/>
man nicht verlangen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>464.</head><lb/>
              <p>Be&#x017F;teht die Verletzung in dem that&#x017F;ächlichen Eingriff in das Rechts-<lb/>
gebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Be&#x017F;itz&#x017F;törung eines andern<lb/>
States, &#x017F;o i&#x017F;t der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Un-<lb/>
rechts und Wiederher&#x017F;tellung des ge&#x017F;törten Rechts- oder Be&#x017F;itz&#x017F;tandes bezie-<lb/>
hungswei&#x017F;e Schadenser&#x017F;atz zu begehren, &#x017F;ondern überdem Genugthuung und<lb/>
Sühne und je nach Um&#x017F;tänden weitere Garantien gegen Erneuerung des<lb/>
Rechtsbruchs zu fordern.</p><lb/>
              <p>Der <hi rendition="#g">Rechtsbruch</hi> i&#x017F;t eine &#x017F;chwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung<lb/>
und daher eher dem &#x017F;trafbaren Unrecht der Privatper&#x017F;onen zu vergleichen. Da es<lb/>
aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, &#x017F;ondern die Selb&#x017F;thülfe<lb/>
des Völkerrechts noch auf der&#x017F;elben Stufe &#x017F;ich befindet, wie die alte Rache der in<lb/>
ihrem Frieden verletzten Barbaren, &#x017F;o muß die Be&#x017F;timmung der <hi rendition="#g">Sühne</hi> großen-<lb/>
theils dem Erme&#x017F;&#x017F;en des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Ver-<lb/>
letzer überla&#x017F;&#x017F;en werden.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>465.</head><lb/>
              <p>Wird der Rechtsbruch bis zu gewalt&#x017F;amem Friedensbruch ge&#x017F;teigert,<lb/>
&#x017F;o wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friede-<lb/>
brechers erweitert.</p><lb/>
              <p>Zwi&#x017F;chen <hi rendition="#g">Rechtsbruch</hi> und <hi rendition="#g">Friedensbruch</hi> be&#x017F;teht ein ähnlicher Unter-<lb/>
&#x017F;chied, <hi rendition="#g">wie</hi> zwi&#x017F;chen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der &#x017F;chwer zu definiren<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0282] Siebentes Buch. 463. Wird die Ehre eines andern Stats verletzt oder ſeine Würde miß- achtet, ſo iſt der beleidigte oder gekränkte Stat berechtigt, entſprechende Genugthuung zu fordern. Es unterſcheidet ſich dieſe Art der Rechtsverletzung von der vorhergehenden durch den idealen Charakter des gekränkten Rechts und durch die tiefere Empfin- dung des beleidigten Statsbewußtſeins. Die Genugthuung geht da- her auch einen Schritt über die bloße Wiederherſtellung hinaus. Sie kann nach Umſtänden in der Beſtrafung derjenigen Perſonen beſtehen, welche jene Belei- digung begangen und die Würde des verletzten States mißachtet haben. Die Genug- thuung kann nicht bloß gewährt, ſie kann unter Umſtänden auch genommen werden. Die Art derſelben wird oft durch die Sitte beſtimmt. Unſittliches darf man nicht verlangen. 464. Beſteht die Verletzung in dem thatſächlichen Eingriff in das Rechts- gebiet (Rechtsbruch) oder in widerrechtlicher Beſitzſtörung eines andern States, ſo iſt der verletzte Stat berechtigt, nicht bloß Aufhebung des Un- rechts und Wiederherſtellung des geſtörten Rechts- oder Beſitzſtandes bezie- hungsweiſe Schadenserſatz zu begehren, ſondern überdem Genugthuung und Sühne und je nach Umſtänden weitere Garantien gegen Erneuerung des Rechtsbruchs zu fordern. Der Rechtsbruch iſt eine ſchwerere Verletzung, als die bloße Nichterfüllung und daher eher dem ſtrafbaren Unrecht der Privatperſonen zu vergleichen. Da es aber im Völkerrechte keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit gibt, ſondern die Selbſthülfe des Völkerrechts noch auf derſelben Stufe ſich befindet, wie die alte Rache der in ihrem Frieden verletzten Barbaren, ſo muß die Beſtimmung der Sühne großen- theils dem Ermeſſen des verletzten States und den Verhandlungen mit dem Ver- letzer überlaſſen werden. 465. Wird der Rechtsbruch bis zu gewaltſamem Friedensbruch geſteigert, ſo wird auch das Recht des verletzten States auf Züchtigung des Friede- brechers erweitert. Zwiſchen Rechtsbruch und Friedensbruch beſteht ein ähnlicher Unter- ſchied, wie zwiſchen Vergehen und Verbrechen im Strafrecht, der ſchwer zu definiren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/282
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/282>, abgerufen am 22.12.2024.