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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Völkerrechtliche Verträge.
streitet, sind insofern unwirksam, als der früher berechtigte Stat ihrer
Ausführung entgegen tritt.

Solche Verträge sind nicht an sich ungültig. Wenn der Stat, dessen ältere
Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, sich diese Aen-
derung gefallen läßt, so sind dieselben vollwirksam. Aber im Widerstreit geht das
bestehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor.

415.

Auch ungünstige Vertragsbestimmungen und lästige Versprechen sollen
gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, sich von
Verträgen loszusagen, welche mit seiner Existenz oder seiner nothwendigen
Entwicklung unverträglich sind.

Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert
seine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten gestatten, sich einer Ver-
tragspflicht zu entledigen, sobald ihm dieselbe lästig erschiene, so würde die Sicherheit
des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs
höchste gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche
Grenze in den Grundrechten des States auf seine Existenz und seine
nothwendige Entwicklung
. Im Conflict mit diesen ursprünglichsten und un-
veräußerlichen Rechten muß das secundäre Vertragsrecht zurückstehn.

416.

Die Gültigkeit der Statenverträge ist von der Regierungsform der
contrahirenden Staten sowie von der Religion der Staten oder ihrer Ver-
treter unabhängig.

Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchristen (Ungläubigen)
binden nicht. Sogar im siebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römischen
Curie und von katholischen Bischöfen behauptet, daß die katholischen Fürsten nicht
verpflichtet seien, die den ketzerischen (protestantischen) Fürsten gegebenen Zusagen zu
halten. Dem heutigen Völkerrecht ist es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertrags-
pflicht eine allgemein-menschliche Rechtspflicht sei, welche Christen und
Muhammedaner, Juden und Buddhisten gleichmäßig verbinde. Ebenso ist der Unter-
schied der Stats- und Verfassungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellver-
tretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Repu-
bliken, absolute und constitutionelle Monarchien, Aristokratien und Demokratien kön-
nen ihre Verhältnisse vertragsmäßig ordnen.


Völkerrechtliche Verträge.
ſtreitet, ſind inſofern unwirkſam, als der früher berechtigte Stat ihrer
Ausführung entgegen tritt.

Solche Verträge ſind nicht an ſich ungültig. Wenn der Stat, deſſen ältere
Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, ſich dieſe Aen-
derung gefallen läßt, ſo ſind dieſelben vollwirkſam. Aber im Widerſtreit geht das
beſtehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor.

415.

Auch ungünſtige Vertragsbeſtimmungen und läſtige Verſprechen ſollen
gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, ſich von
Verträgen loszuſagen, welche mit ſeiner Exiſtenz oder ſeiner nothwendigen
Entwicklung unverträglich ſind.

Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert
ſeine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten geſtatten, ſich einer Ver-
tragspflicht zu entledigen, ſobald ihm dieſelbe läſtig erſchiene, ſo würde die Sicherheit
des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs
höchſte gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche
Grenze in den Grundrechten des States auf ſeine Exiſtenz und ſeine
nothwendige Entwicklung
. Im Conflict mit dieſen urſprünglichſten und un-
veräußerlichen Rechten muß das ſecundäre Vertragsrecht zurückſtehn.

416.

Die Gültigkeit der Statenverträge iſt von der Regierungsform der
contrahirenden Staten ſowie von der Religion der Staten oder ihrer Ver-
treter unabhängig.

Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchriſten (Ungläubigen)
binden nicht. Sogar im ſiebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römiſchen
Curie und von katholiſchen Biſchöfen behauptet, daß die katholiſchen Fürſten nicht
verpflichtet ſeien, die den ketzeriſchen (proteſtantiſchen) Fürſten gegebenen Zuſagen zu
halten. Dem heutigen Völkerrecht iſt es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertrags-
pflicht eine allgemein-menſchliche Rechtspflicht ſei, welche Chriſten und
Muhammedaner, Juden und Buddhiſten gleichmäßig verbinde. Ebenſo iſt der Unter-
ſchied der Stats- und Verfaſſungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellver-
tretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Repu-
bliken, abſolute und conſtitutionelle Monarchien, Ariſtokratien und Demokratien kön-
nen ihre Verhältniſſe vertragsmäßig ordnen.


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[237/0259] Völkerrechtliche Verträge. ſtreitet, ſind inſofern unwirkſam, als der früher berechtigte Stat ihrer Ausführung entgegen tritt. Solche Verträge ſind nicht an ſich ungültig. Wenn der Stat, deſſen ältere Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, ſich dieſe Aen- derung gefallen läßt, ſo ſind dieſelben vollwirkſam. Aber im Widerſtreit geht das beſtehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor. 415. Auch ungünſtige Vertragsbeſtimmungen und läſtige Verſprechen ſollen gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, ſich von Verträgen loszuſagen, welche mit ſeiner Exiſtenz oder ſeiner nothwendigen Entwicklung unverträglich ſind. Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert ſeine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten geſtatten, ſich einer Ver- tragspflicht zu entledigen, ſobald ihm dieſelbe läſtig erſchiene, ſo würde die Sicherheit des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs höchſte gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche Grenze in den Grundrechten des States auf ſeine Exiſtenz und ſeine nothwendige Entwicklung. Im Conflict mit dieſen urſprünglichſten und un- veräußerlichen Rechten muß das ſecundäre Vertragsrecht zurückſtehn. 416. Die Gültigkeit der Statenverträge iſt von der Regierungsform der contrahirenden Staten ſowie von der Religion der Staten oder ihrer Ver- treter unabhängig. Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchriſten (Ungläubigen) binden nicht. Sogar im ſiebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römiſchen Curie und von katholiſchen Biſchöfen behauptet, daß die katholiſchen Fürſten nicht verpflichtet ſeien, die den ketzeriſchen (proteſtantiſchen) Fürſten gegebenen Zuſagen zu halten. Dem heutigen Völkerrecht iſt es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertrags- pflicht eine allgemein-menſchliche Rechtspflicht ſei, welche Chriſten und Muhammedaner, Juden und Buddhiſten gleichmäßig verbinde. Ebenſo iſt der Unter- ſchied der Stats- und Verfaſſungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellver- tretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Repu- bliken, abſolute und conſtitutionelle Monarchien, Ariſtokratien und Demokratien kön- nen ihre Verhältniſſe vertragsmäßig ordnen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/259>, abgerufen am 21.11.2024.