Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Buch.
hat, noch in dem entwickelten State haben kann, sondern alle Thronfolge statsrecht-
liche Succession ist, so legt die moderne Rechtsbildung den dynastischen Erbansprüchen
nur dann Wirksamkeit bei, wenn sie auch in der Statsverfassung begründet sind
oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe
entgegenstehen.

294.

Das bestehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs,
insbesondere durch Erhebung der Seeküste durch Aufschwemmungen, oder
durch künstliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unstatlichem Boden.
Es kann ebenso vermindert werden durch Versenkung der Küste, durch
Wegschwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der
statlichen Cultur.

Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets sind eine
nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der
Menschen
. Da das Meer nicht Statsgebiet, sondern frei von jeder Statsgewalt
ist, so verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch
den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art sind noch in ge-
schichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeschichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei-
nen sind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der
Mensch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüstenrande verwirkt, sind
durchweg auf einen engen Raum beschränkt.

295.

Wenn sich neue Inseln im Strome oder Flusse bilden, so gehören
sie, abgesehen von besondern Verträgen, dem zunächst gelegenen Uferstate
zu. Entstehen sie in der Mitte des Flusses, so unterliegen sie der Thei-
lung der beiden Uferstaten nach der Mitte.

Aehnliche Grundsätze hat das römische und deutsche Privatrecht bezüg-
lich des Grundeigenthums auf der neuen Insel ausgesprochen (L. 7. § 3. D. de
adq. rer. dom.
Sachsenspiegel II. 56. § 2). Das Grundeigenthum ist freilich
nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie seiner Grundsätze nur mit
Vorsicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieses der Satz anerkannt
werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn
sie nachweisbar durch Wegschwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem
frühern Grundbesitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus statsrechtlichen Gründen
dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem sie entsteht; denn unmöglich kann ein Stat
sich durch bloße Erdanspülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat
sich da festsetzen lassen, bloß weil das Eigenthum an den Erdstücken von einem zum

Viertes Buch.
hat, noch in dem entwickelten State haben kann, ſondern alle Thronfolge ſtatsrecht-
liche Succeſſion iſt, ſo legt die moderne Rechtsbildung den dynaſtiſchen Erbanſprüchen
nur dann Wirkſamkeit bei, wenn ſie auch in der Statsverfaſſung begründet ſind
oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe
entgegenſtehen.

294.

Das beſtehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs,
insbeſondere durch Erhebung der Seeküſte durch Aufſchwemmungen, oder
durch künſtliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unſtatlichem Boden.
Es kann ebenſo vermindert werden durch Verſenkung der Küſte, durch
Wegſchwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der
ſtatlichen Cultur.

Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets ſind eine
nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der
Menſchen
. Da das Meer nicht Statsgebiet, ſondern frei von jeder Statsgewalt
iſt, ſo verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch
den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art ſind noch in ge-
ſchichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeſchichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei-
nen ſind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der
Menſch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüſtenrande verwirkt, ſind
durchweg auf einen engen Raum beſchränkt.

295.

Wenn ſich neue Inſeln im Strome oder Fluſſe bilden, ſo gehören
ſie, abgeſehen von beſondern Verträgen, dem zunächſt gelegenen Uferſtate
zu. Entſtehen ſie in der Mitte des Fluſſes, ſo unterliegen ſie der Thei-
lung der beiden Uferſtaten nach der Mitte.

Aehnliche Grundſätze hat das römiſche und deutſche Privatrecht bezüg-
lich des Grundeigenthums auf der neuen Inſel ausgeſprochen (L. 7. § 3. D. de
adq. rer. dom.
Sachſenſpiegel II. 56. § 2). Das Grundeigenthum iſt freilich
nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie ſeiner Grundſätze nur mit
Vorſicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieſes der Satz anerkannt
werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn
ſie nachweisbar durch Wegſchwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem
frühern Grundbeſitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus ſtatsrechtlichen Gründen
dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem ſie entſteht; denn unmöglich kann ein Stat
ſich durch bloße Erdanſpülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat
ſich da feſtſetzen laſſen, bloß weil das Eigenthum an den Erdſtücken von einem zum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0196" n="174"/><fw place="top" type="header">Viertes Buch.</fw><lb/>
hat, noch in dem entwickelten State haben kann, &#x017F;ondern alle Thronfolge &#x017F;tatsrecht-<lb/>
liche Succe&#x017F;&#x017F;ion i&#x017F;t, &#x017F;o legt die moderne Rechtsbildung den dyna&#x017F;ti&#x017F;chen Erban&#x017F;prüchen<lb/>
nur dann Wirk&#x017F;amkeit bei, wenn &#x017F;ie auch in der Statsverfa&#x017F;&#x017F;ung begründet &#x017F;ind<lb/>
oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe<lb/>
entgegen&#x017F;tehen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>294.</head><lb/>
              <p>Das be&#x017F;tehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs,<lb/>
insbe&#x017F;ondere durch Erhebung der Seekü&#x017F;te durch Auf&#x017F;chwemmungen, oder<lb/>
durch kün&#x017F;tliche neue Anlagen und Bauten auf bisher un&#x017F;tatlichem Boden.<lb/>
Es kann eben&#x017F;o vermindert werden durch Ver&#x017F;enkung der Kü&#x017F;te, durch<lb/>
Weg&#x017F;chwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der<lb/>
&#x017F;tatlichen Cultur.</p><lb/>
              <p>Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets &#x017F;ind eine<lb/><hi rendition="#g">nothwendige Wirkung der Natur</hi>, die andern das <hi rendition="#g">freie Werk der<lb/>
Men&#x017F;chen</hi>. Da das Meer nicht Statsgebiet, &#x017F;ondern frei von jeder Statsgewalt<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch<lb/>
den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art &#x017F;ind noch in ge-<lb/>
&#x017F;chichtlicher Zeit, größere freilich in vorge&#x017F;chichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei-<lb/>
nen &#x017F;ind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der<lb/>
Men&#x017F;ch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wü&#x017F;tenrande verwirkt, &#x017F;ind<lb/>
durchweg auf einen engen Raum be&#x017F;chränkt.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>295.</head><lb/>
              <p>Wenn &#x017F;ich neue In&#x017F;eln im Strome oder Flu&#x017F;&#x017F;e bilden, &#x017F;o gehören<lb/>
&#x017F;ie, abge&#x017F;ehen von be&#x017F;ondern Verträgen, dem zunäch&#x017F;t gelegenen Ufer&#x017F;tate<lb/>
zu. Ent&#x017F;tehen &#x017F;ie in der Mitte des Flu&#x017F;&#x017F;es, &#x017F;o unterliegen &#x017F;ie der Thei-<lb/>
lung der beiden Ufer&#x017F;taten nach der Mitte.</p><lb/>
              <p>Aehnliche Grund&#x017F;ätze hat das <hi rendition="#g">römi&#x017F;che</hi> und <hi rendition="#g">deut&#x017F;che</hi> Privatrecht bezüg-<lb/>
lich des Grundeigenthums auf der neuen In&#x017F;el ausge&#x017F;prochen (<hi rendition="#aq">L.</hi> 7. § 3. <hi rendition="#aq">D. de<lb/>
adq. rer. dom.</hi> <hi rendition="#g">Sach&#x017F;en&#x017F;piegel</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi> 56. § 2). Das Grundeigenthum i&#x017F;t freilich<lb/>
nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie &#x017F;einer Grund&#x017F;ätze nur mit<lb/>
Vor&#x017F;icht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für die&#x017F;es der Satz anerkannt<lb/>
werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn<lb/>
&#x017F;ie nachweisbar durch Weg&#x017F;chwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem<lb/>
frühern Grundbe&#x017F;itzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus &#x017F;tatsrechtlichen Gründen<lb/>
dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem &#x017F;ie ent&#x017F;teht; denn unmöglich kann ein Stat<lb/>
&#x017F;ich durch bloße Erdan&#x017F;pülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat<lb/>
&#x017F;ich da fe&#x017F;t&#x017F;etzen la&#x017F;&#x017F;en, bloß weil das Eigenthum an den Erd&#x017F;tücken von einem zum<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0196] Viertes Buch. hat, noch in dem entwickelten State haben kann, ſondern alle Thronfolge ſtatsrecht- liche Succeſſion iſt, ſo legt die moderne Rechtsbildung den dynaſtiſchen Erbanſprüchen nur dann Wirkſamkeit bei, wenn ſie auch in der Statsverfaſſung begründet ſind oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe entgegenſtehen. 294. Das beſtehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs, insbeſondere durch Erhebung der Seeküſte durch Aufſchwemmungen, oder durch künſtliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unſtatlichem Boden. Es kann ebenſo vermindert werden durch Verſenkung der Küſte, durch Wegſchwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der ſtatlichen Cultur. Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets ſind eine nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der Menſchen. Da das Meer nicht Statsgebiet, ſondern frei von jeder Statsgewalt iſt, ſo verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art ſind noch in ge- ſchichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeſchichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei- nen ſind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der Menſch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüſtenrande verwirkt, ſind durchweg auf einen engen Raum beſchränkt. 295. Wenn ſich neue Inſeln im Strome oder Fluſſe bilden, ſo gehören ſie, abgeſehen von beſondern Verträgen, dem zunächſt gelegenen Uferſtate zu. Entſtehen ſie in der Mitte des Fluſſes, ſo unterliegen ſie der Thei- lung der beiden Uferſtaten nach der Mitte. Aehnliche Grundſätze hat das römiſche und deutſche Privatrecht bezüg- lich des Grundeigenthums auf der neuen Inſel ausgeſprochen (L. 7. § 3. D. de adq. rer. dom. Sachſenſpiegel II. 56. § 2). Das Grundeigenthum iſt freilich nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie ſeiner Grundſätze nur mit Vorſicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieſes der Satz anerkannt werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn ſie nachweisbar durch Wegſchwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem frühern Grundbeſitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus ſtatsrechtlichen Gründen dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem ſie entſteht; denn unmöglich kann ein Stat ſich durch bloße Erdanſpülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat ſich da feſtſetzen laſſen, bloß weil das Eigenthum an den Erdſtücken von einem zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/196
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/196>, abgerufen am 21.11.2024.