Aus der völkerrechtlichen Existenz der Staten und aus ihrer Bethei- ligung an dem Schicksal der europäischen Statengenossenschaft folgt das natürliche Recht aller europäischen Staten, welche einen selbständigen völker- rechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäischen Congreß zu- gezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.
Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrecht- liche Existenz behaupten können, sind nicht zu individueller, sondern nur zur Gesammtvertretung berechtigt.
Nach diesem Grundsatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des Kaisers NapoleonIII. an alle souveränen Staten Europas. "Jedesmal", heißt es in dem Einladungsschreiben, "wenn starke Stöße die Grundlagen der Staten erschüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen, um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgestaltungen zu sich- ten und zu heiligen".
110.
Sind die auf einem allgemeinen europäischen Congresse versammelten Staten einig über völkerrechtliche Bestimmungen, so sind dieselben für alle europäischen Staten verbindliche Rechtsvorschriften.
Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erschienen sind und daher ihre Zustimmung nicht erklärt haben.
111.
Ein europäischer Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongresses, aber wenn er einig ist, so spricht er das derzeitige europäische Rechts- bewußtsein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.
Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß diese Aussprache auch von den außereuropäischen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde. So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot der Kaperei, zu welchem sich der Pariser Friedenscongreß von 1856 verständigt hatte, nicht anerkannt, so lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute eben- falls verboten werde.
112.
Die Anerkennung und Wirksamkeit allgemeiner Grundsätze des Völ- kerrechts wird besser gesichert, wenn zu der Berathung und autoritativen
Völkerrechtliche Perſonen.
109.
Aus der völkerrechtlichen Exiſtenz der Staten und aus ihrer Bethei- ligung an dem Schickſal der europäiſchen Statengenoſſenſchaft folgt das natürliche Recht aller europäiſchen Staten, welche einen ſelbſtändigen völker- rechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß zu- gezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.
Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrecht- liche Exiſtenz behaupten können, ſind nicht zu individueller, ſondern nur zur Geſammtvertretung berechtigt.
Nach dieſem Grundſatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des Kaiſers NapoleonIII. an alle ſouveränen Staten Europas. „Jedesmal“, heißt es in dem Einladungsſchreiben, „wenn ſtarke Stöße die Grundlagen der Staten erſchüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen, um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgeſtaltungen zu ſich- ten und zu heiligen“.
110.
Sind die auf einem allgemeinen europäiſchen Congreſſe verſammelten Staten einig über völkerrechtliche Beſtimmungen, ſo ſind dieſelben für alle europäiſchen Staten verbindliche Rechtsvorſchriften.
Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erſchienen ſind und daher ihre Zuſtimmung nicht erklärt haben.
111.
Ein europäiſcher Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongreſſes, aber wenn er einig iſt, ſo ſpricht er das derzeitige europäiſche Rechts- bewußtſein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.
Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß dieſe Ausſprache auch von den außereuropäiſchen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde. So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot der Kaperei, zu welchem ſich der Pariſer Friedenscongreß von 1856 verſtändigt hatte, nicht anerkannt, ſo lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute eben- falls verboten werde.
112.
Die Anerkennung und Wirkſamkeit allgemeiner Grundſätze des Völ- kerrechts wird beſſer geſichert, wenn zu der Berathung und autoritativen
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Völkerrechtliche Perſonen.
109.
Aus der völkerrechtlichen Exiſtenz der Staten und aus ihrer Bethei-
ligung an dem Schickſal der europäiſchen Statengenoſſenſchaft folgt das
natürliche Recht aller europäiſchen Staten, welche einen ſelbſtändigen völker-
rechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß zu-
gezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.
Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrecht-
liche Exiſtenz behaupten können, ſind nicht zu individueller, ſondern nur
zur Geſammtvertretung berechtigt.
Nach dieſem Grundſatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des
Kaiſers Napoleon III. an alle ſouveränen Staten Europas. „Jedesmal“, heißt
es in dem Einladungsſchreiben, „wenn ſtarke Stöße die Grundlagen der Staten
erſchüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen,
um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgeſtaltungen zu ſich-
ten und zu heiligen“.
110.
Sind die auf einem allgemeinen europäiſchen Congreſſe verſammelten
Staten einig über völkerrechtliche Beſtimmungen, ſo ſind dieſelben für alle
europäiſchen Staten verbindliche Rechtsvorſchriften.
Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erſchienen ſind
und daher ihre Zuſtimmung nicht erklärt haben.
111.
Ein europäiſcher Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongreſſes,
aber wenn er einig iſt, ſo ſpricht er das derzeitige europäiſche Rechts-
bewußtſein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.
Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß dieſe Ausſprache
auch von den außereuropäiſchen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde.
So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot
der Kaperei, zu welchem ſich der Pariſer Friedenscongreß von 1856 verſtändigt hatte,
nicht anerkannt, ſo lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute eben-
falls verboten werde.
112.
Die Anerkennung und Wirkſamkeit allgemeiner Grundſätze des Völ-
kerrechts wird beſſer geſichert, wenn zu der Berathung und autoritativen
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/125>, abgerufen am 21.11.2024.
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