Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächsten Anspruch darauf, zu den europäischen Großstaten gerechnet zu werden. Spanien, im sech- zehnten Jahrhundert noch die erste europäische Großmacht, ist durch die Mißregierung seiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen ent- kräftet und entgeistet worden, daß es in unserm Jahrhundert nicht mehr als Groß- stat angesehen wurde. Das kann sich aber wieder ändern. Ebenso kann auch Schweden, im siebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine be- deutendere Stellung erwerben, wenn es den Geist der Zeit versteht. Die Bedeutung Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches Schwanken gerathen, ist seit dem Kriege von 1866 und seitdem es gewiß ist, daß das deutsche Volk nun in dem Könige von Preußen sein Reichsoberhaupt und daher vorerst thatsächlich den deutschen Kaiser erkennt, sehr gehoben worden. Alle diese Aenderungen in den politischen Verhältnissen der Staten wirken auch auf die Stel- lung und den Einfluß zurück, welche diesen Staten in der Organisation Europas zukommen.
105.
Jeder europäische Stat hat ein Recht darauf, daß seine besondern Angelegenheiten nicht von den Großstaten gemeinsam verhandelt werden, ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.
Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: "Que si, pour mieux atteindre le but ci-dessus enonce (le maintien de la paix generale, fonde sur le re- spect religieux pour les engagements consignes dans les traites) les puis- sances qui ont concouru an present acte, jugeaient necessaire d'etablir des reunions particulieres, soit entre les augustes souverains eux-memes, soit entre leurs ministres et plenipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun de leurs propres interets, en tant qu'ils se rapportent a l'objet de leurs de- liberations actuelles, l'epoque et l'endroit de ces reunions seront chaque fois preablement arretes au moyen de communications diplomatiques, et que, dans le cas ou ces reunions auraient pour objet des affaires specialement liees aux interets des autres etats de l'Europe, elles n'auront lieu qu'a la suite d'une invitation formelle de la part de ceux de ces etats que les dites af- faires concerneraient, et sous la reserve expresse de leur droit d'y partici- per directement ou par leurs plenipotentiaires."
106.
Das Recht des States, über dessen Verhältnisse in der Versammlung der europäischen Großstaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erstreckt sich auf alle Verhandlungen. Er steht dabei den Großstaten nicht wie eine Partei ihrem Richter, sondern als vollberechtigte Person und wesentlich gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Statengenossenschaft zur Seite.
Völkerrechtliche Perſonen.
Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächſten Anſpruch darauf, zu den europäiſchen Großſtaten gerechnet zu werden. Spanien, im ſech- zehnten Jahrhundert noch die erſte europäiſche Großmacht, iſt durch die Mißregierung ſeiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen ent- kräftet und entgeiſtet worden, daß es in unſerm Jahrhundert nicht mehr als Groß- ſtat angeſehen wurde. Das kann ſich aber wieder ändern. Ebenſo kann auch Schweden, im ſiebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine be- deutendere Stellung erwerben, wenn es den Geiſt der Zeit verſteht. Die Bedeutung Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches Schwanken gerathen, iſt ſeit dem Kriege von 1866 und ſeitdem es gewiß iſt, daß das deutſche Volk nun in dem Könige von Preußen ſein Reichsoberhaupt und daher vorerſt thatſächlich den deutſchen Kaiſer erkennt, ſehr gehoben worden. Alle dieſe Aenderungen in den politiſchen Verhältniſſen der Staten wirken auch auf die Stel- lung und den Einfluß zurück, welche dieſen Staten in der Organiſation Europas zukommen.
105.
Jeder europäiſche Stat hat ein Recht darauf, daß ſeine beſondern Angelegenheiten nicht von den Großſtaten gemeinſam verhandelt werden, ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.
Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: „Que si, pour mieux atteindre le but ci-dessus énoncé (le maintien de la paix générale, fondé sur le re- spect réligieux pour les engagements consignés dans les traités) les puis- sances qui ont concouru an présent acte, jugeaient nécessaire d’établir des réunions particulières, soit entre les augustes souverains eux-mêmes, soit entre leurs ministres et plénipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun de leurs propres intérêts, en tant qu’ils se rapportent à l’objet de leurs dé- liberations actuelles, l’époque et l’endroit de ces réunions seront chaque fois préablement arrêtés au moyen de communications diplomatiques, et que, dans le cas ou ces réunions auraient pour objet des affaires spécialement liées aux interêts des autres états de l’Europe, elles n’auront lieu qu’à la suite d’une invitation formelle de la part de ceux de ces états que les dites af- faires concerneraient, et sous la réserve expresse de leur droit d’y partici- per directement ou par leurs plénipotentiaires.“
106.
Das Recht des States, über deſſen Verhältniſſe in der Verſammlung der europäiſchen Großſtaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erſtreckt ſich auf alle Verhandlungen. Er ſteht dabei den Großſtaten nicht wie eine Partei ihrem Richter, ſondern als vollberechtigte Perſon und weſentlich gleichberechtigtes Mitglied der europäiſchen Statengenoſſenſchaft zur Seite.
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Völkerrechtliche Perſonen.
Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächſten Anſpruch
darauf, zu den europäiſchen Großſtaten gerechnet zu werden. Spanien, im ſech-
zehnten Jahrhundert noch die erſte europäiſche Großmacht, iſt durch die Mißregierung
ſeiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen ent-
kräftet und entgeiſtet worden, daß es in unſerm Jahrhundert nicht mehr als Groß-
ſtat angeſehen wurde. Das kann ſich aber wieder ändern. Ebenſo kann auch
Schweden, im ſiebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine be-
deutendere Stellung erwerben, wenn es den Geiſt der Zeit verſteht. Die Bedeutung
Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches
Schwanken gerathen, iſt ſeit dem Kriege von 1866 und ſeitdem es gewiß iſt, daß
das deutſche Volk nun in dem Könige von Preußen ſein Reichsoberhaupt und daher
vorerſt thatſächlich den deutſchen Kaiſer erkennt, ſehr gehoben worden. Alle dieſe
Aenderungen in den politiſchen Verhältniſſen der Staten wirken auch auf die Stel-
lung und den Einfluß zurück, welche dieſen Staten in der Organiſation Europas
zukommen.
105.
Jeder europäiſche Stat hat ein Recht darauf, daß ſeine beſondern
Angelegenheiten nicht von den Großſtaten gemeinſam verhandelt werden,
ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.
Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: „Que si, pour mieux atteindre
le but ci-dessus énoncé (le maintien de la paix générale, fondé sur le re-
spect réligieux pour les engagements consignés dans les traités) les puis-
sances qui ont concouru an présent acte, jugeaient nécessaire d’établir des
réunions particulières, soit entre les augustes souverains eux-mêmes, soit
entre leurs ministres et plénipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun
de leurs propres intérêts, en tant qu’ils se rapportent à l’objet de leurs dé-
liberations actuelles, l’époque et l’endroit de ces réunions seront chaque fois
préablement arrêtés au moyen de communications diplomatiques, et que, dans
le cas ou ces réunions auraient pour objet des affaires spécialement liées
aux interêts des autres états de l’Europe, elles n’auront lieu qu’à la suite
d’une invitation formelle de la part de ceux de ces états que les dites af-
faires concerneraient, et sous la réserve expresse de leur droit d’y partici-
per directement ou par leurs plénipotentiaires.“
106.
Das Recht des States, über deſſen Verhältniſſe in der Verſammlung
der europäiſchen Großſtaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erſtreckt
ſich auf alle Verhandlungen. Er ſteht dabei den Großſtaten nicht wie eine
Partei ihrem Richter, ſondern als vollberechtigte Perſon und weſentlich
gleichberechtigtes Mitglied der europäiſchen Statengenoſſenſchaft zur Seite.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/123>, abgerufen am 21.11.2024.
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