christlichen Religion ein neues christliches Völkerrecht begründen will, kann nicht als modernes Völkerrecht gelten.
Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oester- reich und Preußen unterzeichnet 14/26. Sept. 1815, war ein Versuch der Restaurations- epoche, im Gegensatze zu der französischen Revolution, ein neues Völkerrecht zu be- gründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiösen Ueberlieferung des Mittelalters, zum Theil der Russischen Weltansicht entnommen. Eben deßhalb konn- ten sie weder das moderne Rechtsbewußtsein, noch die Bedürfnisse der civilisirteren Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an und waren daher ungeeignet, den Fortschritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen. Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutschen Statswörterbuch von Bluntschli und Brater.
102.
Indem sie das Völkerrecht ausschließlich auf die Religion gründet, verkennt sie den Unterschied von Religion und Recht; indem sie nur auf christliche Völker anwendbar ist und die nicht-christlichen Staten außer die menschliche Weltordnung versetzt, verengt sie die Wirksamkeit des Völker- rechts; indem sie Christus als den "alleinigen Souverain der gesammten christlichen Nation" bezeichnet, geräth sie auf die Abwege der Theokratie, welche dem politischen Bewußtsein der europäischen und der civilisirten Völker überhaupt fremd und unerträglich ist; indem sie die patriarchalischen Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt sie nicht zu der Denkweise und den Bedürfnissen der politisch erzogenen und frei gewordenen Menschheit.
Man kann den frommen Geist, der dieses Actenstück beseelt, ehren und sich des großen Fortschrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der Staten der verschiedenen christlichen Confessionen auch im Gegensatz zum Mittelalter liegt, das nur die Christenheit Einer Confession als eine berechtigte Völkerfamilie anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausschloß und verdammte. Aber die oben genannten Mängel sind so groß, daß das Werk trotz der wohlwollen- den Absichten seiner Gründer nicht gelingen konnte.
Die Bestimmungen der heiligen Allianz sind durch die Wissenschaft als unzu- reichend und theilweise irrthümlich im Princip und durch die seitherige europäische Geschichte als unausführbar und unwirksam erwiesen worden.
Die gesammte Entwicklung des Rechts- und des Statsbegriffs sowohl im Alterthum als in der Neuzeit bei sämmtlichen Statsvölkern widerspricht der theokra- tischen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der Papst sind derselben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäischen Staten haben sich seither theils ausdrücklich davon losgesagt, theils stillschweigend dieselbe fallen gelassen. Die gesammte Verfassungsbildung der neuen Zeit wird von menschlichen Rechtsideen bestimmt. In dem Orientalischen Kriege von 1854--1856
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Völkerrechtliche Perſonen.
chriſtlichen Religion ein neues chriſtliches Völkerrecht begründen will, kann nicht als modernes Völkerrecht gelten.
Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oeſter- reich und Preußen unterzeichnet 14/26. Sept. 1815, war ein Verſuch der Reſtaurations- epoche, im Gegenſatze zu der franzöſiſchen Revolution, ein neues Völkerrecht zu be- gründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiöſen Ueberlieferung des Mittelalters, zum Theil der Ruſſiſchen Weltanſicht entnommen. Eben deßhalb konn- ten ſie weder das moderne Rechtsbewußtſein, noch die Bedürfniſſe der civiliſirteren Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an und waren daher ungeeignet, den Fortſchritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen. Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und Brater.
102.
Indem ſie das Völkerrecht ausſchließlich auf die Religion gründet, verkennt ſie den Unterſchied von Religion und Recht; indem ſie nur auf chriſtliche Völker anwendbar iſt und die nicht-chriſtlichen Staten außer die menſchliche Weltordnung verſetzt, verengt ſie die Wirkſamkeit des Völker- rechts; indem ſie Chriſtus als den „alleinigen Souverain der geſammten chriſtlichen Nation“ bezeichnet, geräth ſie auf die Abwege der Theokratie, welche dem politiſchen Bewußtſein der europäiſchen und der civiliſirten Völker überhaupt fremd und unerträglich iſt; indem ſie die patriarchaliſchen Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt ſie nicht zu der Denkweiſe und den Bedürfniſſen der politiſch erzogenen und frei gewordenen Menſchheit.
Man kann den frommen Geiſt, der dieſes Actenſtück beſeelt, ehren und ſich des großen Fortſchrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der Staten der verſchiedenen chriſtlichen Confeſſionen auch im Gegenſatz zum Mittelalter liegt, das nur die Chriſtenheit Einer Confeſſion als eine berechtigte Völkerfamilie anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausſchloß und verdammte. Aber die oben genannten Mängel ſind ſo groß, daß das Werk trotz der wohlwollen- den Abſichten ſeiner Gründer nicht gelingen konnte.
Die Beſtimmungen der heiligen Allianz ſind durch die Wiſſenſchaft als unzu- reichend und theilweiſe irrthümlich im Princip und durch die ſeitherige europäiſche Geſchichte als unausführbar und unwirkſam erwieſen worden.
Die geſammte Entwicklung des Rechts- und des Statsbegriffs ſowohl im Alterthum als in der Neuzeit bei ſämmtlichen Statsvölkern widerſpricht der theokra- tiſchen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der Papſt ſind derſelben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäiſchen Staten haben ſich ſeither theils ausdrücklich davon losgeſagt, theils ſtillſchweigend dieſelbe fallen gelaſſen. Die geſammte Verfaſſungsbildung der neuen Zeit wird von menſchlichen Rechtsideen beſtimmt. In dem Orientaliſchen Kriege von 1854—1856
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Völkerrechtliche Perſonen.
chriſtlichen Religion ein neues chriſtliches Völkerrecht begründen will, kann
nicht als modernes Völkerrecht gelten.
Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oeſter-
reich und Preußen unterzeichnet 14/26. Sept. 1815, war ein Verſuch der Reſtaurations-
epoche, im Gegenſatze zu der franzöſiſchen Revolution, ein neues Völkerrecht zu be-
gründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiöſen Ueberlieferung des
Mittelalters, zum Theil der Ruſſiſchen Weltanſicht entnommen. Eben deßhalb konn-
ten ſie weder das moderne Rechtsbewußtſein, noch die Bedürfniſſe der civiliſirteren
Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an
und waren daher ungeeignet, den Fortſchritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen.
Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und
Brater.
102.
Indem ſie das Völkerrecht ausſchließlich auf die Religion gründet,
verkennt ſie den Unterſchied von Religion und Recht; indem ſie nur auf
chriſtliche Völker anwendbar iſt und die nicht-chriſtlichen Staten außer die
menſchliche Weltordnung verſetzt, verengt ſie die Wirkſamkeit des Völker-
rechts; indem ſie Chriſtus als den „alleinigen Souverain der geſammten
chriſtlichen Nation“ bezeichnet, geräth ſie auf die Abwege der Theokratie,
welche dem politiſchen Bewußtſein der europäiſchen und der civiliſirten
Völker überhaupt fremd und unerträglich iſt; indem ſie die patriarchaliſchen
Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt ſie nicht zu der Denkweiſe und den
Bedürfniſſen der politiſch erzogenen und frei gewordenen Menſchheit.
Man kann den frommen Geiſt, der dieſes Actenſtück beſeelt, ehren und ſich
des großen Fortſchrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der
Staten der verſchiedenen chriſtlichen Confeſſionen auch im Gegenſatz zum Mittelalter
liegt, das nur die Chriſtenheit Einer Confeſſion als eine berechtigte Völkerfamilie
anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausſchloß und verdammte.
Aber die oben genannten Mängel ſind ſo groß, daß das Werk trotz der wohlwollen-
den Abſichten ſeiner Gründer nicht gelingen konnte.
Die Beſtimmungen der heiligen Allianz ſind durch die Wiſſenſchaft als unzu-
reichend und theilweiſe irrthümlich im Princip und durch die ſeitherige europäiſche
Geſchichte als unausführbar und unwirkſam erwieſen worden.
Die geſammte Entwicklung des Rechts- und des Statsbegriffs ſowohl im
Alterthum als in der Neuzeit bei ſämmtlichen Statsvölkern widerſpricht der theokra-
tiſchen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der
Papſt ſind derſelben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäiſchen
Staten haben ſich ſeither theils ausdrücklich davon losgeſagt, theils ſtillſchweigend
dieſelbe fallen gelaſſen. Die geſammte Verfaſſungsbildung der neuen Zeit wird von
menſchlichen Rechtsideen beſtimmt. In dem Orientaliſchen Kriege von 1854—1856
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/121>, abgerufen am 22.12.2024.
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