Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.Zweites Buch. völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indessen nichtwillkürlich und ohne Grund versagt werden darf. Vgl. zu Art. 84. Die grundlose Verweigerung der Anerkennung ist zum II. Statensysteme. 1. Gleichgewicht. 95. Das Gleichgewicht unter den Staten besteht nicht darin, daß diesel- Das Völkerrecht muß diese Verschiedenheit anerkennen und darf sie Der Gedanke eines mathematischen Gleichgewichts war zu Anfang des 96. Es ist ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die bestehenden Zweites Buch. völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nichtwillkürlich und ohne Grund verſagt werden darf. Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum II. Statenſyſteme. 1. Gleichgewicht. 95. Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel- Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des 96. Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p><pb facs="#f0118" n="96"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch.</fw><lb/> völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht<lb/> willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.</p><lb/> <p>Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum<lb/> mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta-<lb/> tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat.</p> </div> </div> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Statenſyſteme.</hi> </head><lb/> <div n="4"> <head>1. <hi rendition="#g">Gleichgewicht</hi>.</head><lb/> <div n="5"> <head>95.</head><lb/> <p>Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel-<lb/> ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich<lb/> mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt<lb/> eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der<lb/> Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.</p><lb/> <p>Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie<lb/> nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit<lb/> gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.</p><lb/> <p>Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des<lb/><hi rendition="#aq">XVIII.</hi> Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung<lb/> des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie.<lb/> Der bekannte Vorſchlag des Abb<hi rendition="#aq">é</hi> <hi rendition="#g">Saint Pierre</hi>: <hi rendition="#aq">„Projet de la paix éternello“</hi><lb/> von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht<lb/> Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber<lb/> der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich<lb/> nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo<lb/> die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.</p> </div><lb/> <div n="5"> <head>96.</head><lb/> <p>Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden<lb/> Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und<lb/> inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid-<lb/> liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß<lb/> die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0118]
Zweites Buch.
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht
willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.
Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum
mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta-
tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat.
II. Statenſyſteme.
1. Gleichgewicht.
95.
Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel-
ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich
mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt
eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der
Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.
Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie
nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit
gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.
Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des
XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung
des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie.
Der bekannte Vorſchlag des Abbé Saint Pierre: „Projet de la paix éternello“
von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht
Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber
der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich
nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo
die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.
96.
Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden
Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und
inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid-
liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß
die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.
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