Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch.
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indessen nicht
willkürlich und ohne Grund versagt werden darf.

Vgl. zu Art. 84. Die grundlose Verweigerung der Anerkennung ist zum
mindesten ein Zeichen unfreundlicher Gesinnung und kann zur Beleidigung des Sta-
tes werden, der sich emporgeschwungen hat.


II. Statensysteme.
1. Gleichgewicht.
95.

Das Gleichgewicht unter den Staten besteht nicht darin, daß diesel-
ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich
mächtig seien. Die Verschiedenheit der Staten an Größe und Macht ist
eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterschiede des Bodens der
Volksindividualitäten und der geschichtlichen Entwicklung.

Das Völkerrecht muß diese Verschiedenheit anerkennen und darf sie
nicht bekämpfen. Ihre Zerstörung würde die Bestimmung der Menschheit
gefährden, welche auf der Wechselwirkung verschiedener Kräfte beruht.

Der Gedanke eines mathematischen Gleichgewichts war zu Anfang des
XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von seiner Verwirklichung die Sicherung
des Weltfriedens und die gründliche Beseitigung jeder Gefahr von Universalmonarchie.
Der bekannte Vorschlag des Abbe Saint Pierre: "Projet de la paix eternello"
von 1715 am Schluß des großen europäischen Krieges gegen das Uebergewicht
Frankreichs, sucht diesen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzustellen. Aber
der Gedanke ist schon deßhalb falsch, weil er die geistigen Charakterkräfte, die sich
nicht abzählen lassen, mißachtet und eine künstliche Gleichheit da einrichten will, wo
die Natur große und dauernde Unterschiede zeigt.

96.

Es ist ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die bestehenden
Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und
insofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenso eine unvermeid-
liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirksamkeit. Das Völkerrecht muß
die umbildende Macht der Geschichte anerkennen.

Zweites Buch.
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht
willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.

Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum
mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta-
tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat.


II. Statenſyſteme.
1. Gleichgewicht.
95.

Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel-
ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich
mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt
eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der
Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.

Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie
nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit
gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.

Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des
XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung
des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie.
Der bekannte Vorſchlag des Abbé Saint Pierre: „Projet de la paix éternello“
von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht
Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber
der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich
nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo
die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.

96.

Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden
Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und
inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid-
liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß
die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0118" n="96"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch.</fw><lb/>
völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche inde&#x017F;&#x017F;en nicht<lb/>
willkürlich und ohne Grund ver&#x017F;agt werden darf.</p><lb/>
                  <p>Vgl. zu Art. 84. Die grundlo&#x017F;e Verweigerung der Anerkennung i&#x017F;t zum<lb/>
minde&#x017F;ten ein Zeichen unfreundlicher Ge&#x017F;innung und kann zur Beleidigung des Sta-<lb/>
tes werden, der &#x017F;ich emporge&#x017F;chwungen hat.</p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Staten&#x017F;y&#x017F;teme.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>1. <hi rendition="#g">Gleichgewicht</hi>.</head><lb/>
              <div n="5">
                <head>95.</head><lb/>
                <p>Das Gleichgewicht unter den Staten be&#x017F;teht nicht darin, daß die&#x017F;el-<lb/>
ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich<lb/>
mächtig &#x017F;eien. Die Ver&#x017F;chiedenheit der Staten an Größe und Macht i&#x017F;t<lb/>
eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unter&#x017F;chiede des Bodens der<lb/>
Volksindividualitäten und der ge&#x017F;chichtlichen Entwicklung.</p><lb/>
                <p>Das Völkerrecht muß die&#x017F;e Ver&#x017F;chiedenheit anerkennen und darf &#x017F;ie<lb/>
nicht bekämpfen. Ihre Zer&#x017F;törung würde die Be&#x017F;timmung der Men&#x017F;chheit<lb/>
gefährden, welche auf der Wech&#x017F;elwirkung ver&#x017F;chiedener Kräfte beruht.</p><lb/>
                <p>Der Gedanke eines mathemati&#x017F;chen Gleichgewichts war zu Anfang des<lb/><hi rendition="#aq">XVIII.</hi> Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von &#x017F;einer Verwirklichung die Sicherung<lb/>
des Weltfriedens und die gründliche Be&#x017F;eitigung jeder Gefahr von Univer&#x017F;almonarchie.<lb/>
Der bekannte Vor&#x017F;chlag des Abb<hi rendition="#aq">é</hi> <hi rendition="#g">Saint Pierre</hi>: <hi rendition="#aq">&#x201E;Projet de la paix éternello&#x201C;</hi><lb/>
von 1715 am Schluß des großen europäi&#x017F;chen Krieges gegen das Uebergewicht<lb/>
Frankreichs, &#x017F;ucht die&#x017F;en Gedanken in einer neuen Karte Europas darzu&#x017F;tellen. Aber<lb/>
der Gedanke i&#x017F;t &#x017F;chon deßhalb fal&#x017F;ch, weil er die gei&#x017F;tigen Charakterkräfte, die &#x017F;ich<lb/>
nicht abzählen la&#x017F;&#x017F;en, mißachtet und eine kün&#x017F;tliche Gleichheit da einrichten will, wo<lb/>
die Natur große und dauernde Unter&#x017F;chiede zeigt.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>96.</head><lb/>
                <p>Es i&#x017F;t ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die be&#x017F;tehenden<lb/>
Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und<lb/>
in&#x017F;ofern nothwendiges Wachsthum der Staten und eben&#x017F;o eine unvermeid-<lb/>
liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirk&#x017F;amkeit. Das Völkerrecht muß<lb/>
die umbildende Macht der Ge&#x017F;chichte anerkennen.</p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0118] Zweites Buch. völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf. Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta- tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat. II. Statenſyſteme. 1. Gleichgewicht. 95. Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel- ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung. Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht. Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie. Der bekannte Vorſchlag des Abbé Saint Pierre: „Projet de la paix éternello“ von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt. 96. Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid- liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/118
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/118>, abgerufen am 21.11.2024.