Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Völkerrechtliche Personen.
fortdauert, so wird der eine Vasallenstat und der andere lehensherrlicher
oder oberherrlicher Stat genannt.

Die völkerrechtliche Selbständigkeit des erstern wird durch die noth-
wendige Rücksicht auf den letztern beschränkt.

Es sind hier immerhin mancherlei Uebergangsstufen von einer Gebundenheit,
welche den diplomatischen Verkehr des Vasallenstates mit andern Staten nur durch
Vermittlung des oberherrlichen States gestattet, bis zu völlig freier Bewegung des
Vasallenstates denkbar. Die deutschen Territorialstaten des spätern Mittel-
alters waren solche Vasallenstaten, indem sie ihre Regalien von dem deutschen Könige
empfingen und von Kaiser und Reich abhängig waren. Aber seit dem Westphälischen
Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu schließen.

In mancherlei verschiedenen Rechtsverhältnissen stehen die Vasallenstaten
der Türkei
, die mohammedanischen Fürstenthümer Tunis und Tripolis, das
Vicekönigthum Aegypten, sodann das christliche Fürstenthum Serbien und
die rumänischen Donaufürstenthümer Moldau und Wallachei und das Fürstenthum
von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur
dem äußeren Scheiue nach gleichsam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vasallenstat des
päpstlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäischen Völkerrecht als ein
voll-souveräner Stat betrachtet und behandelt.

77.

Da die Souveränetät, in welcher sich die Einheit und Hoheit des
States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, so ist diese Spal-
tung derselben in eine Oberherrliche und in eine Vasallensouveränetät nicht
dauerhaft. Entweder erheben sich im Laufe der Zeit die Vasallenstaten zu
vollsouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen
Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder
die verliehenen Hoheitsrechte an sich und einverleibt sich den Vasallenstat.

Die geschichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieses Satzes. Im Mittel-
alter gab es eine große Masse von Vasallenstaten sowohl in Europa als in Asien.
Gegenwärtig sind fast alle verschwunden, weil sie in Einheitsstaten umgewandelt worden
sind. Nur in dem Türkischen Reiche ist dieser Umbildungsproceß noch nicht
zum Abschluß gekommen. Das Völkerrecht muß diese natürliche Entwicklung beach-
ten und es soll sie schützen, es darf sie nicht dadurch hemmen wollen, daß es un-
haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen
sucht.

78.

Die Souveränetät der Schutzstaaten, das heißt der Staten, welche
im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States gesucht

Völkerrechtliche Perſonen.
fortdauert, ſo wird der eine Vaſallenſtat und der andere lehensherrlicher
oder oberherrlicher Stat genannt.

Die völkerrechtliche Selbſtändigkeit des erſtern wird durch die noth-
wendige Rückſicht auf den letztern beſchränkt.

Es ſind hier immerhin mancherlei Uebergangsſtufen von einer Gebundenheit,
welche den diplomatiſchen Verkehr des Vaſallenſtates mit andern Staten nur durch
Vermittlung des oberherrlichen States geſtattet, bis zu völlig freier Bewegung des
Vaſallenſtates denkbar. Die deutſchen Territorialſtaten des ſpätern Mittel-
alters waren ſolche Vaſallenſtaten, indem ſie ihre Regalien von dem deutſchen Könige
empfingen und von Kaiſer und Reich abhängig waren. Aber ſeit dem Weſtphäliſchen
Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu ſchließen.

In mancherlei verſchiedenen Rechtsverhältniſſen ſtehen die Vaſallenſtaten
der Türkei
, die mohammedaniſchen Fürſtenthümer Tunis und Tripolis, das
Vicekönigthum Aegypten, ſodann das chriſtliche Fürſtenthum Serbien und
die rumäniſchen Donaufürſtenthümer Moldau und Wallachei und das Fürſtenthum
von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur
dem äußeren Scheiue nach gleichſam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vaſallenſtat des
päpſtlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäiſchen Völkerrecht als ein
voll-ſouveräner Stat betrachtet und behandelt.

77.

Da die Souveränetät, in welcher ſich die Einheit und Hoheit des
States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, ſo iſt dieſe Spal-
tung derſelben in eine Oberherrliche und in eine Vaſallenſouveränetät nicht
dauerhaft. Entweder erheben ſich im Laufe der Zeit die Vaſallenſtaten zu
vollſouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen
Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder
die verliehenen Hoheitsrechte an ſich und einverleibt ſich den Vaſallenſtat.

Die geſchichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieſes Satzes. Im Mittel-
alter gab es eine große Maſſe von Vaſallenſtaten ſowohl in Europa als in Aſien.
Gegenwärtig ſind faſt alle verſchwunden, weil ſie in Einheitsſtaten umgewandelt worden
ſind. Nur in dem Türkiſchen Reiche iſt dieſer Umbildungsproceß noch nicht
zum Abſchluß gekommen. Das Völkerrecht muß dieſe natürliche Entwicklung beach-
ten und es ſoll ſie ſchützen, es darf ſie nicht dadurch hemmen wollen, daß es un-
haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen
ſucht.

78.

Die Souveränetät der Schutzſtaaten, das heißt der Staten, welche
im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States geſucht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0111" n="89"/><fw place="top" type="header">Völkerrechtliche Per&#x017F;onen.</fw><lb/>
fortdauert, &#x017F;o wird der eine Va&#x017F;allen&#x017F;tat und der andere lehensherrlicher<lb/>
oder oberherrlicher Stat genannt.</p><lb/>
                  <p>Die völkerrechtliche Selb&#x017F;tändigkeit des er&#x017F;tern wird durch die noth-<lb/>
wendige Rück&#x017F;icht auf den letztern be&#x017F;chränkt.</p><lb/>
                  <p>Es &#x017F;ind hier immerhin mancherlei Uebergangs&#x017F;tufen von einer Gebundenheit,<lb/>
welche den diplomati&#x017F;chen Verkehr des Va&#x017F;allen&#x017F;tates mit andern Staten nur durch<lb/>
Vermittlung des oberherrlichen States ge&#x017F;tattet, bis zu völlig freier Bewegung des<lb/>
Va&#x017F;allen&#x017F;tates denkbar. Die <hi rendition="#g">deut&#x017F;chen Territorial&#x017F;taten</hi> des &#x017F;pätern Mittel-<lb/>
alters waren &#x017F;olche Va&#x017F;allen&#x017F;taten, indem &#x017F;ie ihre Regalien von dem deut&#x017F;chen Könige<lb/>
empfingen und von Kai&#x017F;er und Reich abhängig waren. Aber &#x017F;eit dem We&#x017F;tphäli&#x017F;chen<lb/>
Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu &#x017F;chließen.</p><lb/>
                  <p>In mancherlei ver&#x017F;chiedenen Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;en &#x017F;tehen die <hi rendition="#g">Va&#x017F;allen&#x017F;taten<lb/>
der Türkei</hi>, die mohammedani&#x017F;chen Für&#x017F;tenthümer <hi rendition="#g">Tunis</hi> und <hi rendition="#g">Tripolis</hi>, das<lb/>
Vicekönigthum <hi rendition="#g">Aegypten</hi>, &#x017F;odann das chri&#x017F;tliche Für&#x017F;tenthum <hi rendition="#g">Serbien</hi> und<lb/>
die <hi rendition="#g">rumäni&#x017F;chen</hi> Donaufür&#x017F;tenthümer Moldau und Wallachei und das Für&#x017F;tenthum<lb/>
von <hi rendition="#g">Montenegro</hi> zur hohen Pforte. Das frühere Königreich <hi rendition="#g">Neapel</hi> war nur<lb/>
dem äußeren Scheiue nach gleich&#x017F;am zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Va&#x017F;allen&#x017F;tat des<lb/>
päp&#x017F;tlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäi&#x017F;chen Völkerrecht als ein<lb/>
voll-&#x017F;ouveräner Stat betrachtet und behandelt.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>77.</head><lb/>
                  <p>Da die Souveränetät, in welcher &#x017F;ich die Einheit und Hoheit des<lb/>
States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;e Spal-<lb/>
tung der&#x017F;elben in eine Oberherrliche und in eine Va&#x017F;allen&#x017F;ouveränetät nicht<lb/>
dauerhaft. Entweder erheben &#x017F;ich im Laufe der Zeit die Va&#x017F;allen&#x017F;taten zu<lb/>
voll&#x017F;ouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen<lb/>
Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder<lb/>
die verliehenen Hoheitsrechte an &#x017F;ich und einverleibt &#x017F;ich den Va&#x017F;allen&#x017F;tat.</p><lb/>
                  <p>Die ge&#x017F;chichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit die&#x017F;es Satzes. Im Mittel-<lb/>
alter gab es eine große Ma&#x017F;&#x017F;e von Va&#x017F;allen&#x017F;taten &#x017F;owohl in Europa als in A&#x017F;ien.<lb/>
Gegenwärtig &#x017F;ind fa&#x017F;t alle ver&#x017F;chwunden, weil &#x017F;ie in Einheits&#x017F;taten umgewandelt worden<lb/>
&#x017F;ind. Nur in dem <hi rendition="#g">Türki&#x017F;chen Reiche</hi> i&#x017F;t die&#x017F;er Umbildungsproceß noch nicht<lb/>
zum Ab&#x017F;chluß gekommen. Das Völkerrecht muß die&#x017F;e natürliche Entwicklung beach-<lb/>
ten und es &#x017F;oll &#x017F;ie &#x017F;chützen, es darf &#x017F;ie nicht dadurch hemmen wollen, daß es <hi rendition="#g">un-<lb/>
haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen</hi> &#x017F;ucht.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>78.</head><lb/>
                  <p>Die Souveränetät der Schutz&#x017F;taaten, das heißt der Staten, welche<lb/>
im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States ge&#x017F;ucht<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0111] Völkerrechtliche Perſonen. fortdauert, ſo wird der eine Vaſallenſtat und der andere lehensherrlicher oder oberherrlicher Stat genannt. Die völkerrechtliche Selbſtändigkeit des erſtern wird durch die noth- wendige Rückſicht auf den letztern beſchränkt. Es ſind hier immerhin mancherlei Uebergangsſtufen von einer Gebundenheit, welche den diplomatiſchen Verkehr des Vaſallenſtates mit andern Staten nur durch Vermittlung des oberherrlichen States geſtattet, bis zu völlig freier Bewegung des Vaſallenſtates denkbar. Die deutſchen Territorialſtaten des ſpätern Mittel- alters waren ſolche Vaſallenſtaten, indem ſie ihre Regalien von dem deutſchen Könige empfingen und von Kaiſer und Reich abhängig waren. Aber ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu ſchließen. In mancherlei verſchiedenen Rechtsverhältniſſen ſtehen die Vaſallenſtaten der Türkei, die mohammedaniſchen Fürſtenthümer Tunis und Tripolis, das Vicekönigthum Aegypten, ſodann das chriſtliche Fürſtenthum Serbien und die rumäniſchen Donaufürſtenthümer Moldau und Wallachei und das Fürſtenthum von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur dem äußeren Scheiue nach gleichſam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vaſallenſtat des päpſtlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäiſchen Völkerrecht als ein voll-ſouveräner Stat betrachtet und behandelt. 77. Da die Souveränetät, in welcher ſich die Einheit und Hoheit des States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, ſo iſt dieſe Spal- tung derſelben in eine Oberherrliche und in eine Vaſallenſouveränetät nicht dauerhaft. Entweder erheben ſich im Laufe der Zeit die Vaſallenſtaten zu vollſouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder die verliehenen Hoheitsrechte an ſich und einverleibt ſich den Vaſallenſtat. Die geſchichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieſes Satzes. Im Mittel- alter gab es eine große Maſſe von Vaſallenſtaten ſowohl in Europa als in Aſien. Gegenwärtig ſind faſt alle verſchwunden, weil ſie in Einheitsſtaten umgewandelt worden ſind. Nur in dem Türkiſchen Reiche iſt dieſer Umbildungsproceß noch nicht zum Abſchluß gekommen. Das Völkerrecht muß dieſe natürliche Entwicklung beach- ten und es ſoll ſie ſchützen, es darf ſie nicht dadurch hemmen wollen, daß es un- haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen ſucht. 78. Die Souveränetät der Schutzſtaaten, das heißt der Staten, welche im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States geſucht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/111
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/111>, abgerufen am 22.12.2024.