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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Ideen auf an dem Horizont, und das Verlangen nach einer
Umgestaltung der Welt regt sich in weiten Kreisen. Die
Hoffnung auf ein neues Leben schwellt die Herzen. In der
Kunst und in der Literatur, im Stat und in der Gesellschaft
vollzieht sich eine Wandlung. Der Sinn der Welt wendet sich
entschieden ab von dem Mittelalter, einer Neuschöpfung zu.

Man vergleiche verwandte Personen und Erscheinungen
seit 1740 mit denen der letzten Jahrhunderte vorher, und man
wird die gewaltige Veränderung in dem Charakter der Zeiten
deutlich erkennen. Nicht blosz die Individuen sind andere,
auch die Bedingungen ihres Daseins, der Boden, auf dem sie
stehen, die Luft um sie her sind anders geworden. Man
vergleiche z. B. Friedrich den Groszen von Preuszen,
den bedeutendsten Repräsentanten des modernen Stats und
der modernen Weltanschauung, nicht nur mit Ludwig XIV. von
Frankreich, dem deutlichsten Repräsentanten des absoluten
Königthums von Gottes Gnaden, welcher das Mittelalter ab-
schlieszt, sondern selbst mit seinem groszen Ahnherrn, dem
Kurfürsten Friedrich Wilhelm; oder man vergleiche die
Befreiung der Niederlande von der spanischen Herrschaft
mit der Befreiung Nordamerikas von der englischen Nation,
oder die englische und die französische Revolution, oder
Rousseau mit Hutten, Lessing mit Luther, und man
wird den heftigen Gegensatz der Zeiten deutlich erkennen.

Die neue Zeit, in welche die civilisirte Menschheit seit
der Mitte des vorigen Jahrhunderts eingetreten ist, zeigt sich
auch in dem unsichern Tasten und Experimentiren der Stats-
theorie und der Statspraxis, in den kecken Versuchen einer
völligen Neuschöpfung und in der momentanen Verzweiflung,
welche dem Miszlingen auf dem Fusze folgt, in dem Schwan-
ken zwischen Revolution und Reaktion.

Wenn das moderne Weltalter im Grossen den Charakter
selbstbewuszter Männlichkeit zeigt, in höherem Grade
als irgend eine frühere Periode der Geschichte, so verrathen

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Ideen auf an dem Horizont, und das Verlangen nach einer
Umgestaltung der Welt regt sich in weiten Kreisen. Die
Hoffnung auf ein neues Leben schwellt die Herzen. In der
Kunst und in der Literatur, im Stat und in der Gesellschaft
vollzieht sich eine Wandlung. Der Sinn der Welt wendet sich
entschieden ab von dem Mittelalter, einer Neuschöpfung zu.

Man vergleiche verwandte Personen und Erscheinungen
seit 1740 mit denen der letzten Jahrhunderte vorher, und man
wird die gewaltige Veränderung in dem Charakter der Zeiten
deutlich erkennen. Nicht blosz die Individuen sind andere,
auch die Bedingungen ihres Daseins, der Boden, auf dem sie
stehen, die Luft um sie her sind anders geworden. Man
vergleiche z. B. Friedrich den Groszen von Preuszen,
den bedeutendsten Repräsentanten des modernen Stats und
der modernen Weltanschauung, nicht nur mit Ludwig XIV. von
Frankreich, dem deutlichsten Repräsentanten des absoluten
Königthums von Gottes Gnaden, welcher das Mittelalter ab-
schlieszt, sondern selbst mit seinem groszen Ahnherrn, dem
Kurfürsten Friedrich Wilhelm; oder man vergleiche die
Befreiung der Niederlande von der spanischen Herrschaft
mit der Befreiung Nordamerikas von der englischen Nation,
oder die englische und die französische Revolution, oder
Rousseau mit Hutten, Lessing mit Luther, und man
wird den heftigen Gegensatz der Zeiten deutlich erkennen.

Die neue Zeit, in welche die civilisirte Menschheit seit
der Mitte des vorigen Jahrhunderts eingetreten ist, zeigt sich
auch in dem unsichern Tasten und Experimentiren der Stats-
theorie und der Statspraxis, in den kecken Versuchen einer
völligen Neuschöpfung und in der momentanen Verzweiflung,
welche dem Miszlingen auf dem Fusze folgt, in dem Schwan-
ken zwischen Revolution und Reaktion.

Wenn das moderne Weltalter im Grossen den Charakter
selbstbewuszter Männlichkeit zeigt, in höherem Grade
als irgend eine frühere Periode der Geschichte, so verrathen

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[57/0075] Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee. Ideen auf an dem Horizont, und das Verlangen nach einer Umgestaltung der Welt regt sich in weiten Kreisen. Die Hoffnung auf ein neues Leben schwellt die Herzen. In der Kunst und in der Literatur, im Stat und in der Gesellschaft vollzieht sich eine Wandlung. Der Sinn der Welt wendet sich entschieden ab von dem Mittelalter, einer Neuschöpfung zu. Man vergleiche verwandte Personen und Erscheinungen seit 1740 mit denen der letzten Jahrhunderte vorher, und man wird die gewaltige Veränderung in dem Charakter der Zeiten deutlich erkennen. Nicht blosz die Individuen sind andere, auch die Bedingungen ihres Daseins, der Boden, auf dem sie stehen, die Luft um sie her sind anders geworden. Man vergleiche z. B. Friedrich den Groszen von Preuszen, den bedeutendsten Repräsentanten des modernen Stats und der modernen Weltanschauung, nicht nur mit Ludwig XIV. von Frankreich, dem deutlichsten Repräsentanten des absoluten Königthums von Gottes Gnaden, welcher das Mittelalter ab- schlieszt, sondern selbst mit seinem groszen Ahnherrn, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm; oder man vergleiche die Befreiung der Niederlande von der spanischen Herrschaft mit der Befreiung Nordamerikas von der englischen Nation, oder die englische und die französische Revolution, oder Rousseau mit Hutten, Lessing mit Luther, und man wird den heftigen Gegensatz der Zeiten deutlich erkennen. Die neue Zeit, in welche die civilisirte Menschheit seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eingetreten ist, zeigt sich auch in dem unsichern Tasten und Experimentiren der Stats- theorie und der Statspraxis, in den kecken Versuchen einer völligen Neuschöpfung und in der momentanen Verzweiflung, welche dem Miszlingen auf dem Fusze folgt, in dem Schwan- ken zwischen Revolution und Reaktion. Wenn das moderne Weltalter im Grossen den Charakter selbstbewuszter Männlichkeit zeigt, in höherem Grade als irgend eine frühere Periode der Geschichte, so verrathen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/75>, abgerufen am 26.04.2024.