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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
ränetät auf den "allgemeinen Willen" (la volonte generale) und
substituirte so irrthümlich der suprema potestas die suprema voluntas.
Aus diesem Grunde erklärt er, im Widerspruche mit der Geschichte, die
Souveränetät für unveräuszerlich, denn "wohl lasse sich die Macht
nicht aber der Wille übertragen." Contr. soc. II. 1. Dieser erste Grund-
irrthum, welcher das Recht als Willkür faszt und in demselben nur das
Product des Willens, nicht auch dessen nothwendige Vorbedingung und
Schranke erkennt, welcher von dem "Sollen" nichts weisz, war unge-
mein fruchtbar an neuen Irrthümern. Der Wille ist eine Entfaltung
und Aeuszerung des menschlichen Geistes und Gemüthes, nicht aber
wie die Souveränetät eine Rechtsinstitution des States. Der
Wille kann wohl die Ausübung des Rechtes beseelen, auch wohl Verän-
derungen in der Rechtsordnung hervorbringen, aber er ist für sich kein
Recht. Der Wille des Souveräns setzt die Souveränetät voraus, nicht
umgekehrt diese jenen.

2. Der Gedanke, dasz die Souveränetät die Quelle des States und
der Rechtsordnung und demgemäsz der Souverän über dem State sei,
ist unlogisch. Statsmacht und Statshoheit lassen sich nur denken, wenn
man den Stat voraus denkt. Die Souveränetät ist daher ein statsrecht-
licher
, nicht ein überstatsrechtlicher Begriff.

3. Const. Franz (Vorschule d. St. S. 32) hat das "Selbstbewuszt-
sein
des Stats" neben der öffentlichen Gewalt als die zweite Haupt-
eigenschaft der Souveränetät erklärt. Aber das Bewusztsein ist nöthig
für die Ausübung eines Rechts, für die Rechtshandlung, nicht eine Eigen-
schaft des Rechts selbst.



Zweites Capitel.
Statssouveränetät (Volkssouveränetät) und Regenten-
souveränetät.

Wem kommt die Souveränetät zu? Die Parteien sind ge-
neigt auf diese Frage in ganz verschiedenem Sinne zu ant-
worten, und auch die Wissenschaft hat mancherlei Schwierig-
keiten aus dem Wege zu räumen und Vorurtheile zu überwin-
den, bis es ihr gelingt, zu einer einfachen und wahren Lösung
hindurch zu dringen.

1. Eine besonders seit Rousseau und der französischen
Revolution sehr verbreitete Meinung antwortet: Dem Volke

Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
ränetät auf den „allgemeinen Willen“ (la volonté générale) und
substituirte so irrthümlich der suprema potestas die suprema voluntas.
Aus diesem Grunde erklärt er, im Widerspruche mit der Geschichte, die
Souveränetät für unveräuszerlich, denn „wohl lasse sich die Macht
nicht aber der Wille übertragen.“ Contr. soc. II. 1. Dieser erste Grund-
irrthum, welcher das Recht als Willkür faszt und in demselben nur das
Product des Willens, nicht auch dessen nothwendige Vorbedingung und
Schranke erkennt, welcher von dem „Sollen“ nichts weisz, war unge-
mein fruchtbar an neuen Irrthümern. Der Wille ist eine Entfaltung
und Aeuszerung des menschlichen Geistes und Gemüthes, nicht aber
wie die Souveränetät eine Rechtsinstitution des States. Der
Wille kann wohl die Ausübung des Rechtes beseelen, auch wohl Verän-
derungen in der Rechtsordnung hervorbringen, aber er ist für sich kein
Recht. Der Wille des Souveräns setzt die Souveränetät voraus, nicht
umgekehrt diese jenen.

2. Der Gedanke, dasz die Souveränetät die Quelle des States und
der Rechtsordnung und demgemäsz der Souverän über dem State sei,
ist unlogisch. Statsmacht und Statshoheit lassen sich nur denken, wenn
man den Stat voraus denkt. Die Souveränetät ist daher ein statsrecht-
licher
, nicht ein überstatsrechtlicher Begriff.

3. Const. Franz (Vorschule d. St. S. 32) hat das „Selbstbewuszt-
sein
des Stats“ neben der öffentlichen Gewalt als die zweite Haupt-
eigenschaft der Souveränetät erklärt. Aber das Bewusztsein ist nöthig
für die Ausübung eines Rechts, für die Rechtshandlung, nicht eine Eigen-
schaft des Rechts selbst.



Zweites Capitel.
Statssouveränetät (Volkssouveränetät) und Regenten-
souveränetät.

Wem kommt die Souveränetät zu? Die Parteien sind ge-
neigt auf diese Frage in ganz verschiedenem Sinne zu ant-
worten, und auch die Wissenschaft hat mancherlei Schwierig-
keiten aus dem Wege zu räumen und Vorurtheile zu überwin-
den, bis es ihr gelingt, zu einer einfachen und wahren Lösung
hindurch zu dringen.

1. Eine besonders seit Rousseau und der französischen
Revolution sehr verbreitete Meinung antwortet: Dem Volke

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[565/0583] Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät. ränetät auf den „allgemeinen Willen“ (la volonté générale) und substituirte so irrthümlich der suprema potestas die suprema voluntas. Aus diesem Grunde erklärt er, im Widerspruche mit der Geschichte, die Souveränetät für unveräuszerlich, denn „wohl lasse sich die Macht nicht aber der Wille übertragen.“ Contr. soc. II. 1. Dieser erste Grund- irrthum, welcher das Recht als Willkür faszt und in demselben nur das Product des Willens, nicht auch dessen nothwendige Vorbedingung und Schranke erkennt, welcher von dem „Sollen“ nichts weisz, war unge- mein fruchtbar an neuen Irrthümern. Der Wille ist eine Entfaltung und Aeuszerung des menschlichen Geistes und Gemüthes, nicht aber wie die Souveränetät eine Rechtsinstitution des States. Der Wille kann wohl die Ausübung des Rechtes beseelen, auch wohl Verän- derungen in der Rechtsordnung hervorbringen, aber er ist für sich kein Recht. Der Wille des Souveräns setzt die Souveränetät voraus, nicht umgekehrt diese jenen. 2. Der Gedanke, dasz die Souveränetät die Quelle des States und der Rechtsordnung und demgemäsz der Souverän über dem State sei, ist unlogisch. Statsmacht und Statshoheit lassen sich nur denken, wenn man den Stat voraus denkt. Die Souveränetät ist daher ein statsrecht- licher, nicht ein überstatsrechtlicher Begriff. 3. Const. Franz (Vorschule d. St. S. 32) hat das „Selbstbewuszt- sein des Stats“ neben der öffentlichen Gewalt als die zweite Haupt- eigenschaft der Souveränetät erklärt. Aber das Bewusztsein ist nöthig für die Ausübung eines Rechts, für die Rechtshandlung, nicht eine Eigen- schaft des Rechts selbst. Zweites Capitel. Statssouveränetät (Volkssouveränetät) und Regenten- souveränetät. Wem kommt die Souveränetät zu? Die Parteien sind ge- neigt auf diese Frage in ganz verschiedenem Sinne zu ant- worten, und auch die Wissenschaft hat mancherlei Schwierig- keiten aus dem Wege zu räumen und Vorurtheile zu überwin- den, bis es ihr gelingt, zu einer einfachen und wahren Lösung hindurch zu dringen. 1. Eine besonders seit Rousseau und der französischen Revolution sehr verbreitete Meinung antwortet: Dem Volke

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/583>, abgerufen am 21.11.2024.