Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Buch. Die Statsformen.
den radicalen Statsgeist in dem Idolstat,
den liberalen Statsgeist in dem Individualstat,
den conservativen Statsgeist in dem Rassestat,
den absolutistischen Statsgeist in dem Formenstat.

Eine Monarchie z. B. kann möglicher Weise alle diese Phasen des
politischen Geistes der Reihe nach durchmachen. Wenn R. v. Mohl
(Statswissenschaft I. S. 262) einwendet, ein Volk sei nicht jung und
nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Greise zugleich beisammen
seien, so beruht diese Einwendung auf einem Miszverständnisz der Lehre,
die er bestreitet. Schon die Alten haben gewuszt, und v. Savigny
hat es der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dasz auch die Völker
als organische Gesammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der
Jugend und dem Alter der Individuen. Auszer dieser Folge der Zeiten,
die sich in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene
Volkscharakter in Betracht. Wie es einzelne Menschen gibt, deren
Wesen kindlich oder auch kindisch ist und bleibt, und die selbst im
reifen und hohen Alter diesen Grundzug ihrer Natur nie verläugnen,
und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen
Charakter haben, so gibt es auch kindliche und ältliche Völker von
Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den groszen Rassen. Die
Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen
ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen.
In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint
doch die Natur der Spanier -- abgesehen von der Lebensperiode, in der
sie sich befinden -- eher dem ältern, die der deutschen dem jugend-
lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und
daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich
befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit
diesem Geiste auch den Stat, in dem sie leben. Die männliche Form
der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches
Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.



Fünftes Capitel.
Das Princip der vier Nebenformen.

Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für
die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie
kommt doch auch das Recht der Regierten in Betracht,
und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Stats-
verfassung. Die Aristotelische Eintheilung der Statsformen

Sechstes Buch. Die Statsformen.
den radicalen Statsgeist in dem Idolstat,
den liberalen Statsgeist in dem Individualstat,
den conservativen Statsgeist in dem Rassestat,
den absolutistischen Statsgeist in dem Formenstat.

Eine Monarchie z. B. kann möglicher Weise alle diese Phasen des
politischen Geistes der Reihe nach durchmachen. Wenn R. v. Mohl
(Statswissenschaft I. S. 262) einwendet, ein Volk sei nicht jung und
nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Greise zugleich beisammen
seien, so beruht diese Einwendung auf einem Miszverständnisz der Lehre,
die er bestreitet. Schon die Alten haben gewuszt, und v. Savigny
hat es der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dasz auch die Völker
als organische Gesammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der
Jugend und dem Alter der Individuen. Auszer dieser Folge der Zeiten,
die sich in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene
Volkscharakter in Betracht. Wie es einzelne Menschen gibt, deren
Wesen kindlich oder auch kindisch ist und bleibt, und die selbst im
reifen und hohen Alter diesen Grundzug ihrer Natur nie verläugnen,
und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen
Charakter haben, so gibt es auch kindliche und ältliche Völker von
Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den groszen Rassen. Die
Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen
ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen.
In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint
doch die Natur der Spanier — abgesehen von der Lebensperiode, in der
sie sich befinden — eher dem ältern, die der deutschen dem jugend-
lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und
daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich
befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit
diesem Geiste auch den Stat, in dem sie leben. Die männliche Form
der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches
Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.



Fünftes Capitel.
Das Princip der vier Nebenformen.

Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für
die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie
kommt doch auch das Recht der Regierten in Betracht,
und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Stats-
verfassung. Die Aristotelische Eintheilung der Statsformen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p>
            <pb facs="#f0400" n="382"/>
            <fw place="top" type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/> <hi rendition="#et">den <hi rendition="#g">radicalen</hi> Statsgeist in dem <hi rendition="#g">Idolstat</hi>,<lb/>
den <hi rendition="#g">liberalen</hi> Statsgeist in dem <hi rendition="#g">Individualstat</hi>,<lb/>
den <hi rendition="#g">conservativen</hi> Statsgeist in dem <hi rendition="#g">Rassestat</hi>,<lb/>
den <hi rendition="#g">absolutistischen</hi> Statsgeist in dem <hi rendition="#g">Formenstat</hi>.</hi> </p><lb/>
          <p>Eine Monarchie z. B. kann möglicher Weise alle diese Phasen des<lb/>
politischen Geistes der Reihe nach durchmachen. Wenn R. v. <hi rendition="#g">Mohl</hi><lb/>
(Statswissenschaft I. S. 262) einwendet, ein Volk sei nicht jung und<lb/>
nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Greise zugleich beisammen<lb/>
seien, so beruht diese Einwendung auf einem Miszverständnisz der Lehre,<lb/>
die er bestreitet. Schon die Alten haben gewuszt, und v. <hi rendition="#g">Savigny</hi><lb/>
hat es der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dasz auch die Völker<lb/>
als organische Gesammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der<lb/>
Jugend und dem Alter der Individuen. Auszer dieser Folge der Zeiten,<lb/>
die sich in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene<lb/>
Volkscharakter in Betracht. Wie es einzelne Menschen gibt, deren<lb/>
Wesen kindlich oder auch kindisch ist und bleibt, und die selbst im<lb/>
reifen und hohen Alter diesen Grundzug ihrer Natur nie verläugnen,<lb/>
und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen<lb/>
Charakter haben, so gibt es auch kindliche <choice><sic>uud</sic><corr>und</corr></choice> ältliche Völker von<lb/>
Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den groszen Rassen. Die<lb/>
Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen<lb/>
ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen.<lb/>
In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint<lb/>
doch die Natur der Spanier &#x2014; abgesehen von der Lebensperiode, in der<lb/>
sie sich befinden &#x2014; eher dem ältern, die der deutschen dem jugend-<lb/>
lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und<lb/>
daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich<lb/>
befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit<lb/>
diesem Geiste auch den Stat, in dem sie leben. Die männliche Form<lb/>
der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches<lb/>
Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>Fünftes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">Das Princip der vier Nebenformen.</hi></head><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">Art des Statshauptes</hi> ist zwar entscheidend für<lb/>
die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie<lb/>
kommt doch auch das <hi rendition="#g">Recht der Regierten</hi> in Betracht,<lb/>
und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Stats-<lb/>
verfassung. Die Aristotelische Eintheilung der Statsformen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0400] Sechstes Buch. Die Statsformen. den radicalen Statsgeist in dem Idolstat, den liberalen Statsgeist in dem Individualstat, den conservativen Statsgeist in dem Rassestat, den absolutistischen Statsgeist in dem Formenstat. Eine Monarchie z. B. kann möglicher Weise alle diese Phasen des politischen Geistes der Reihe nach durchmachen. Wenn R. v. Mohl (Statswissenschaft I. S. 262) einwendet, ein Volk sei nicht jung und nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Greise zugleich beisammen seien, so beruht diese Einwendung auf einem Miszverständnisz der Lehre, die er bestreitet. Schon die Alten haben gewuszt, und v. Savigny hat es der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dasz auch die Völker als organische Gesammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der Jugend und dem Alter der Individuen. Auszer dieser Folge der Zeiten, die sich in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene Volkscharakter in Betracht. Wie es einzelne Menschen gibt, deren Wesen kindlich oder auch kindisch ist und bleibt, und die selbst im reifen und hohen Alter diesen Grundzug ihrer Natur nie verläugnen, und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen Charakter haben, so gibt es auch kindliche und ältliche Völker von Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den groszen Rassen. Die Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen. In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint doch die Natur der Spanier — abgesehen von der Lebensperiode, in der sie sich befinden — eher dem ältern, die der deutschen dem jugend- lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit diesem Geiste auch den Stat, in dem sie leben. Die männliche Form der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel. Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen. Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie kommt doch auch das Recht der Regierten in Betracht, und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Stats- verfassung. Die Aristotelische Eintheilung der Statsformen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/400
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/400>, abgerufen am 03.12.2024.