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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. III. Abgeleitete.
Viertes Capitel.
III. Abgeleitete Entstehungsformen.

1. Colonisation.

Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten
geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien,
Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen
Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte
neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt
hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus-
tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde so-
fort zum selbständigen neuen State, unabhängig von der
Mutterstadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten,
Recht, Religion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutter-
stadt nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die
väterlichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. 1
Die Hellenen vermochten nicht ein groszes Reich zu gründen
und zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städte-
colonien hellenisirten sie den Orient. 2

Anders die römischen Colonien. Sie waren bestimmt,
die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und
zu befestigen, und blieben daher in einem strengen Abhängig-
keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von
neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des be-
stehenden Einen States die Rede.

Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation.
Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame-
rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so
handelt es sich dabei in der Regel nicht um Gründung neuer

1 Vgl. Herrmann, griechische Staatsalterthümer Cap. IV. Die ältere
phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Staatsgrün-
dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden.
2 Vgl. die Ausführung von Laurent II. S. 310.
Viertes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. III. Abgeleitete.
Viertes Capitel.
III. Abgeleitete Entstehungsformen.

1. Colonisation.

Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten
geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien,
Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen
Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte
neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt
hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus-
tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde so-
fort zum selbständigen neuen State, unabhängig von der
Mutterstadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten,
Recht, Religion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutter-
stadt nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die
väterlichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. 1
Die Hellenen vermochten nicht ein groszes Reich zu gründen
und zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städte-
colonien hellenisirten sie den Orient. 2

Anders die römischen Colonien. Sie waren bestimmt,
die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und
zu befestigen, und blieben daher in einem strengen Abhängig-
keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von
neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des be-
stehenden Einen States die Rede.

Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation.
Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame-
rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so
handelt es sich dabei in der Regel nicht um Gründung neuer

1 Vgl. Herrmann, griechische Staatsalterthümer Cap. IV. Die ältere
phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Staatsgrün-
dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden.
2 Vgl. die Ausführung von Laurent II. S. 310.
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[317/0335] Viertes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. III. Abgeleitete. Viertes Capitel. III. Abgeleitete Entstehungsformen. 1. Colonisation. Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien, Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus- tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde so- fort zum selbständigen neuen State, unabhängig von der Mutterstadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten, Recht, Religion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutter- stadt nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die väterlichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. 1 Die Hellenen vermochten nicht ein groszes Reich zu gründen und zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städte- colonien hellenisirten sie den Orient. 2 Anders die römischen Colonien. Sie waren bestimmt, die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und zu befestigen, und blieben daher in einem strengen Abhängig- keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des be- stehenden Einen States die Rede. Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation. Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame- rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so handelt es sich dabei in der Regel nicht um Gründung neuer 1 Vgl. Herrmann, griechische Staatsalterthümer Cap. IV. Die ältere phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Staatsgrün- dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden. 2 Vgl. die Ausführung von Laurent II. S. 310.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/335>, abgerufen am 21.11.2024.