Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
1. Die originärste Statenbildung unter all den mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der Gründung Roms dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiede- ner Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herren- lose Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der Gedanke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die Organisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile vorher, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprüng- lich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gut- heiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem ge- billigte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich in dem Statsgesetz als in einem einheitlichen Constitui- rungsact, 1 und der Stat ist da als das freie Werk des be- wuszten Volkswillens.
Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes,
1Leo, Weltgesch. I. 393. bezeichnet den "Vertrag" als das charak- teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der obligatorischen Verträge, an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist das römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Act des römischen Volks.
Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
1. Die originärste Statenbildung unter all den mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der Gründung Roms dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiede- ner Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herren- lose Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der Gedanke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die Organisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile vorher, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprüng- lich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gut- heiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem ge- billigte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich in dem Statsgesetz als in einem einheitlichen Constitui- rungsact, 1 und der Stat ist da als das freie Werk des be- wuszten Volkswillens.
Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes,
1Leo, Weltgesch. I. 393. bezeichnet den „Vertrag“ als das charak- teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der obligatorischen Verträge, an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist das römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Act des römischen Volks.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0319"n="301"/><fwplace="top"type="header">Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.</fw><lb/><divn="2"><head>Zweites Capitel.<lb/><hirendition="#b">A. Geschichtliche Entstehungsformen.<lb/>
I. Ursprüngliche</hi>.</head><lb/><p>1. Die <hirendition="#g">originärste Statenbildung</hi> unter all den<lb/>
mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der<lb/>
Gründung <hirendition="#g">Roms</hi> dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das<lb/><hirendition="#g">Volk</hi>, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiede-<lb/>
ner Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und<lb/>
zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herren-<lb/>
lose <hirendition="#g">Land</hi>, welches in Besitz genommen und zu dem Boden<lb/>
der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der<lb/>
Gedanke einer von Grund aus <hirendition="#g">neuen Schöpfung</hi>. Die<lb/>
Organisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke<lb/>
geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile<lb/>
vorher, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprüng-<lb/>
lich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die<lb/>
neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gut-<lb/>
heiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen<lb/>
Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem ge-<lb/>
billigte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist<lb/>
des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich<lb/>
in dem <hirendition="#g">Statsgesetz</hi> als in einem einheitlichen <hirendition="#g">Constitui-<lb/>
rungsact</hi>, <noteplace="foot"n="1"><hirendition="#g">Leo</hi>, Weltgesch. I. 393. bezeichnet den „Vertrag“ als das charak-<lb/>
teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die<lb/>
alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der<lb/>
obligatorischen Verträge, an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist das<lb/>
römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier<lb/>
selbständigen Personen, sondern ein <hirendition="#g">einheitlicher</hi> Act des römischen<lb/>
Volks.</note> und der Stat ist da als das freie Werk des <hirendition="#g">be-<lb/>
wuszten Volkswillens</hi>.</p><lb/><p>Ob diese Form eines <hirendition="#g">schöpferischen Statsactes</hi>,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[301/0319]
Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
Zweites Capitel.
A. Geschichtliche Entstehungsformen.
I. Ursprüngliche.
1. Die originärste Statenbildung unter all den
mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der
Gründung Roms dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das
Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiede-
ner Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und
zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herren-
lose Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden
der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der
Gedanke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die
Organisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke
geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile
vorher, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprüng-
lich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die
neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gut-
heiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen
Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem ge-
billigte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist
des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich
in dem Statsgesetz als in einem einheitlichen Constitui-
rungsact, 1 und der Stat ist da als das freie Werk des be-
wuszten Volkswillens.
Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes,
1 Leo, Weltgesch. I. 393. bezeichnet den „Vertrag“ als das charak-
teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die
alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der
obligatorischen Verträge, an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist das
römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier
selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Act des römischen
Volks.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/319>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.