Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Zweiunddreißigstes Kapitel: Kaiser Wilhelm I. zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu sein, werde ich ihm gegenüberebenso wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hause. Es hinderte das nicht, daß mich sachliche, politische Interessen, für die ich bei dem Herrn entweder kein Verständniß oder eine vorgefaßte Mei¬ nung vorfand, die von Ihrer Majestät oder von confessionellen oder freimaurerischen Hofintriganten ausging, in der Stimmung einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervosität zu einem passiven Widerstande gegen ihn geführt haben, den ich heut in ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬ pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an Momente des Dissenses. VI. Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit seines Wohl¬ Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I. zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu ſein, werde ich ihm gegenüberebenſo wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hauſe. Es hinderte das nicht, daß mich ſachliche, politiſche Intereſſen, für die ich bei dem Herrn entweder kein Verſtändniß oder eine vorgefaßte Mei¬ nung vorfand, die von Ihrer Majeſtät oder von confeſſionellen oder freimaureriſchen Hofintriganten ausging, in der Stimmung einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervoſität zu einem paſſiven Widerſtande gegen ihn geführt haben, den ich heut in ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬ pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an Momente des Diſſenſes. VI. Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit ſeines Wohl¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0314" n="290"/><fw place="top" type="header">Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.<lb/></fw>zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu ſein, werde ich ihm gegenüber<lb/> ebenſo wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hauſe. Es hinderte<lb/> das nicht, daß mich ſachliche, politiſche Intereſſen, für die ich bei<lb/> dem Herrn entweder kein Verſtändniß oder eine vorgefaßte Mei¬<lb/> nung vorfand, die von Ihrer Majeſtät oder von confeſſionellen<lb/> oder freimaureriſchen Hofintriganten ausging, in der Stimmung<lb/> einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervoſität zu einem<lb/> paſſiven Widerſtande gegen ihn geführt haben, den ich heut in<lb/> ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬<lb/> pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an<lb/> Momente des Diſſenſes.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#aq">VI.</hi><lb/> </head> <p>Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit ſeines Wohl¬<lb/> wollens für Andre, ſeiner aus dem Herzen kommenden und von<lb/> hohem Sinne getragnen Liebenswürdigkeit verdankte er es, daß<lb/> ihm eine gewiſſe Leiſtung leicht wurde und gut gelang, die der<lb/> Verſtandesthätigkeit conſtitutioneller Regenten und Miniſter von Zeit<lb/> zu Zeit viel Mühe macht. Für öffentliche Anſprachen enthalten die<lb/> jährlich wiederkehrenden Aeußerungen ſolcher Monarchen, deren<lb/> Conſtitutionalismus als muſtergültig betrachtet wurde, einen reichen<lb/> Vorrath an Redewendungen; aber trotz aller ſprachlichen Gewand¬<lb/> heit haben ſowohl Leopold von Belgien wie Louis Philipp die con¬<lb/> ſtitutionelle Phraſeologie ziemlich erſchöpft, und ein deutſcher Monarch<lb/> wird kaum im Stande ſein, ſchriftlich und gedruckt den Kreis der<lb/> brauchbaren Aeußerungen zu erweitern. Mir ſelbſt iſt keine Arbeit<lb/> unbehaglicher und ſchwieriger geweſen, als die Herſtellung des<lb/> nöthigen Phraſenbedarfs für Thronreden und ähnliche Aeußerungen.<lb/> Wenn Kaiſer Wilhelm ſelbſt Proclamationen redigirte oder wenn<lb/> er eigenhändig Briefe ſchrieb, ſo hatten dieſelben, auch wenn ſie<lb/> ſprachlich incorrect waren, doch immer etwas Gewinnendes, oft Be¬<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [290/0314]
Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.
zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu ſein, werde ich ihm gegenüber
ebenſo wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hauſe. Es hinderte
das nicht, daß mich ſachliche, politiſche Intereſſen, für die ich bei
dem Herrn entweder kein Verſtändniß oder eine vorgefaßte Mei¬
nung vorfand, die von Ihrer Majeſtät oder von confeſſionellen
oder freimaureriſchen Hofintriganten ausging, in der Stimmung
einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervoſität zu einem
paſſiven Widerſtande gegen ihn geführt haben, den ich heut in
ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬
pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an
Momente des Diſſenſes.
VI.
Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit ſeines Wohl¬
wollens für Andre, ſeiner aus dem Herzen kommenden und von
hohem Sinne getragnen Liebenswürdigkeit verdankte er es, daß
ihm eine gewiſſe Leiſtung leicht wurde und gut gelang, die der
Verſtandesthätigkeit conſtitutioneller Regenten und Miniſter von Zeit
zu Zeit viel Mühe macht. Für öffentliche Anſprachen enthalten die
jährlich wiederkehrenden Aeußerungen ſolcher Monarchen, deren
Conſtitutionalismus als muſtergültig betrachtet wurde, einen reichen
Vorrath an Redewendungen; aber trotz aller ſprachlichen Gewand¬
heit haben ſowohl Leopold von Belgien wie Louis Philipp die con¬
ſtitutionelle Phraſeologie ziemlich erſchöpft, und ein deutſcher Monarch
wird kaum im Stande ſein, ſchriftlich und gedruckt den Kreis der
brauchbaren Aeußerungen zu erweitern. Mir ſelbſt iſt keine Arbeit
unbehaglicher und ſchwieriger geweſen, als die Herſtellung des
nöthigen Phraſenbedarfs für Thronreden und ähnliche Aeußerungen.
Wenn Kaiſer Wilhelm ſelbſt Proclamationen redigirte oder wenn
er eigenhändig Briefe ſchrieb, ſo hatten dieſelben, auch wenn ſie
ſprachlich incorrect waren, doch immer etwas Gewinnendes, oft Be¬
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