Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächste auf der Westgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenso gut wie vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag zur Zeit von Schnäbele und Boulanger vor und liegt noch heut vor. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges nach zwei Seiten hin ist durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert: es ist nicht nothwendig, daß ein französischer Angriff auf uns Ru߬ land mit derselben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde, wie ein russischer Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands, still zu sitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, sondern mehr noch von technischen Fragen der Bewaffnung zu Wasser und zu Lande ab. Wenn Rußland mit der Construction seines Gewehrs, der Art seines Pulvers und der Stärke seiner Schwarzen-Meer- Flotte seiner Meinung nach "fertig" ist, so wird die Tonart, in der heut die Variationen der russischen Politik gehalten sind, viel¬ leicht einer freiern Platz machen.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß Rußland, wenn es seine Rüstung vollendet hat, dieselbe benutzen wird, um ohne Weitres und in Rechnung auf französischen Beistand uns anzugreifen. Der deutsche Krieg bietet für Rußland ebenso wenig unmittelbare Vor¬ theile, wie der russische für Deutschland, höchstens im Betrage der
Dreißigſtes Kapitel. Zukünftige Politik Rußlands.
Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächſte auf der Weſtgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenſo gut wie vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag zur Zeit von Schnäbele und Boulanger vor und liegt noch heut vor. Die Wahrſcheinlichkeit eines Krieges nach zwei Seiten hin iſt durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert: es iſt nicht nothwendig, daß ein franzöſiſcher Angriff auf uns Ru߬ land mit derſelben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde, wie ein ruſſiſcher Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands, ſtill zu ſitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, ſondern mehr noch von techniſchen Fragen der Bewaffnung zu Waſſer und zu Lande ab. Wenn Rußland mit der Conſtruction ſeines Gewehrs, der Art ſeines Pulvers und der Stärke ſeiner Schwarzen-Meer- Flotte ſeiner Meinung nach „fertig“ iſt, ſo wird die Tonart, in der heut die Variationen der ruſſiſchen Politik gehalten ſind, viel¬ leicht einer freiern Platz machen.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß Rußland, wenn es ſeine Rüſtung vollendet hat, dieſelbe benutzen wird, um ohne Weitres und in Rechnung auf franzöſiſchen Beiſtand uns anzugreifen. Der deutſche Krieg bietet für Rußland ebenſo wenig unmittelbare Vor¬ theile, wie der ruſſiſche für Deutſchland, höchſtens im Betrage der
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[[260]/0284]
Dreißigſtes Kapitel.
Zukünftige Politik Rußlands.
Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächſte
auf der Weſtgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenſo gut wie
vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag
zur Zeit von Schnäbele und Boulanger vor und liegt noch heut
vor. Die Wahrſcheinlichkeit eines Krieges nach zwei Seiten hin
iſt durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert:
es iſt nicht nothwendig, daß ein franzöſiſcher Angriff auf uns Ru߬
land mit derſelben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde,
wie ein ruſſiſcher Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands,
ſtill zu ſitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, ſondern mehr
noch von techniſchen Fragen der Bewaffnung zu Waſſer und zu
Lande ab. Wenn Rußland mit der Conſtruction ſeines Gewehrs,
der Art ſeines Pulvers und der Stärke ſeiner Schwarzen-Meer-
Flotte ſeiner Meinung nach „fertig“ iſt, ſo wird die Tonart, in
der heut die Variationen der ruſſiſchen Politik gehalten ſind, viel¬
leicht einer freiern Platz machen.
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß Rußland, wenn es ſeine
Rüſtung vollendet hat, dieſelbe benutzen wird, um ohne Weitres
und in Rechnung auf franzöſiſchen Beiſtand uns anzugreifen. Der
deutſche Krieg bietet für Rußland ebenſo wenig unmittelbare Vor¬
theile, wie der ruſſiſche für Deutſchland, höchſtens im Betrage der
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. [260]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/284>, abgerufen am 20.11.2024.
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